Strafen im Einstundentakt

Vier Tage nach den Krawallen: Urteile über drei Deutsche, zwei Spanier, eine Belgierin, einen Polen und einen Russen

Die Polizei hat gestern im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G-8-Gipfel 208 Strafverfahren eingeleitet. 232 Personen sind festgenommen worden, 296 wurden in Gewahrsam genommen, erklärte Polizeisprecher Axel Falkenberg gestern in Rostock. Ein erster Täter stand bereits am Dienstag vor Gericht: Ein Steinewerfer wurde vom Amtsgericht Rostock zu zehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Heute gab es acht Urteile. Im Laufe der Woche sollen weitere Verdächtige in Rostock vor Gericht gestellt werden. AP

AUS ROSTOCK BARBARA BOLLWAHN

Er ist komplett in Dunkelblau gekleidet. Das große T-Shirt, die Trainingshose, die Turnschuhe. Auf der Nase trägt er eine kleine Brille, das schwarze, gelockte Haar ist hinten länger als vorne, im linken Ohr steckt ein Ring. Andrés V. ist 20 Jahre alt, er wohnt noch bei den Eltern in Saragossa, das Abitur liegt hinter ihm, er spielt in einer Theatergruppe mit. Bald will er studieren, mit dem Gesetz ist er noch nie in Konflikt geraten. Ein sympathisch wirkender junger Mann. Doch seine Augen schauen ängstlich durch die Brille. Nervös knetet er seine Hände, die bis vor wenigen Minuten in Handschellen gesteckt haben.

Wenn er nach Spanien zurückkommt, wird er seinen Eltern einiges erklären müssen: Warum wenige Tage vor dem G-8-Gipfel an der Ostsee Steine auf Polizisten geflogen sind. Warum seitdem Bilder von Vermummten um die Welt gehen. Warum er ins Gefängnis soll. Andrés V. wurde gestern in einem beschleunigten Verfahren vor dem Amtsgericht Rostock zu neun Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. 12 Monate lässt das maximale Strafmaß bei beschleunigten Verfahren zu.

Andrés V. ist der Erste von insgesamt acht Männern und Frauen – drei Deutschen, zwei Spaniern, einer Belgierin, einem Polen und einem Russen –, die an diesem Mittwoch mehr oder weniger im Einstundentakt verurteilt werden. Zu 10 bzw. 9 Monaten Haft ohne Bewährung, wegen schweren Landfriedensbruchs und gefährlicher bzw. versuchter gefährlicher Körperverletzung. Der polnische Angeklagte kam mit sechs Monaten auf Bewährung davon, weil er ein Geständnis ablegte. Die Steinewerfer, die ohne Kapuzen, Sonnenbrillen und Tücher so gar nicht dem Bild aggressiver Chaoten entsprechen, haben nach Überzeugung des Gerichts aus der Menge heraus Polizisten angegriffen.

Die beschleunigten Verfahren finden nur wenige hundert Meter Luftlinie vom Stadthafen entfernt statt, wo am Samstag aus der Menge heraus Steine und Flaschen gegen die Beamten flogen. Durch das offene Fenster im Saal 128 des Amtsgerichts sind die Rotorenflügel der Hubschrauber zu hören, die den Luftraum überwachen. In dem kleinen Raum, in dem etwa 30 Freunde und Sympathisanten der mutmaßlichen Randalierer sitzen, fliegen keine Steine. Es sind Worte mit einer Schlagkraft von Wurfgeschossen, die für eine ähnlich aufgeheizte Stimmung sorgen.

Die Beschuldigten bestreiten fast alle Vorwürfe, ohne sich weiter zu ihnen zu äußern. Ihre Verteidigerinnen und Verteidiger kritisieren ein ums andere Mal, dass beschleunigte Prozesse rechtsstaatliche Verfahren verhindern. „Es ist kein einfacher Sachverhalt und keine klare Beweislage“, so eine Anwältin. Zudem fehlten bei den verlesenen Zeugenerklärungen oftmals genaue Zeit- und Ortsangaben. „Und das Gericht steht unter enormen Druck.“ Diesen Vorwurf lässt Richter Matthias Hassel nicht auf sich sitzen. „Überhaupt nicht“, entgegnet er ruhig, aber entschieden. „Wir wollen nur ein Urteil haben. Damit ist die Sache erledigt.“ An der Glaubwürdigkeit der Zeugen gebe es keinen Zweifel. Es handele sich um „Beamte, die vor Ort eingesetzt sind, um Straftäter zu identifizieren und festzunehmen, um später als Zeugen aussagen zu können“. Und nicht um Passanten, die vor einem Jahr zufällig einen Auffahrunfall gesehen haben. Es sei „völlig absurd“, den Zeugen zu unterstellen, sie suchten Sündenböcke. Ebenso gelassen reagiert er auf die Kritik an den beschleunigten Verfahren. „Sie haben am Sonntag noch geradezu darum gebettelt“, sagt er zu einer Anwältin, „aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit.“

Staatsanwalt Stephan Seroka reagiert weniger besonnen. „Herzlichen Glückwunsch!“, ruft er Andrés V. entgegen, „wenn Ihr Ziel als Tourist darin besteht, Krawalltaten zu begehen, dann bleiben Sie nächstes Mal zu Hause!“ Die Anwältin beschwert sich über diese „Unverschämtheit“ und droht mit einer Anzeige wegen Beleidigung. Der Staatsanwalt kommt noch mehr in Fahrt. Erst bestätigt er, dass Andrés V. Glück habe, Heranwachsender zu sein. Dann verneint er herablassend und gönnerhaft eine mögliche Anwendung des Jugendstrafrechts wegen möglicher Reifedefizite: „Er war in der Lage, von dem großen Land Spanien in das große Land Deutschland zu reisen.“ Aufgrund der „an den Tag gelegten Gefühlskälte“ und der „kriminellen Energie“ beantragt er neun Monate Haft. „Die Verteidigung der Rechtsordnung“ gebiete es, die Strafe nicht zur Bewährung auszusetzen. Richter Hassel schließt sich an. „Der normale Mensch versteht nicht, dass sie nicht zumindest einige Zeit eingesperrt sind.“

Noch sind die gestrigen Urteile nicht rechtskräftig, ebenso wenig wie das vom Dienstag. Da wurde ein 31-Jähriger aus Stuttgart verurteilt, ebenfalls zu 10 Monaten Haft ohne Bewährung. Die jungen Männer und Frauen, die den Gerichtssaal mit Handschellen betraten, verließen ihn als freie Menschen. Die Haftbefehle wurden aufgehoben. Sie haben jetzt die Gelegenheit, Rechtsmittel gegen die Strafen einzulegen.

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