Versteckte Armut beim Kirchentag

Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist nur ein Randthema beim Kirchentag. Die notwendige Umverteilung werde nicht angesprochen, klagt Attac. Erwerbslose fühlen sich in den Hintergrund gedrängt

von Ulrike Herrmann

Armut in Deutschland? Arbeitslosigkeit? Immense Konzerngewinne? Diese Themen kommen auf dem Kirchentag kaum vor. Insgesamt gibt es rund 3.000 Veranstaltungen, aber nur eine einzige widmet sich Hartz IV. Ein weiteres Podium trägt den Titel „Armes reiches Deutschland“. Ansonsten aber wird die soziale Ungleichheit hierzulande eher am Rande verhandelt – als Unterpunkt zum Thema Globalisierung und Weltwirtschaft.

„Armut gibt es nur in Afrika und nicht in Deutschland“, fasst Hedel Wenner die Kirchentagspolitik ein wenig bitter zusammen. Sie betreut den Stand des Kölner Arbeitslosenzentrums, der in der hintersten Ecke des Markts der Möglichkeiten zu finden ist. „Es scheint einfacher zu sein, für Gerechtigkeit zu sorgen, wenn es ganz weit weg ist“, vermutet Wenner. „Da spendet man ein bisschen Geld und muss hier nicht abgeben.“

Diesen Eindruck teilt auch Sven Giegold von Attac, der an zwei Veranstaltungen in Köln teilnimmt: Die Kirche rede zwar durchaus über Armut, „aber nicht über Ungleichheit“. Von den Reichen würde nur gefordert, dass sie sich verantwortlich verhalten sollen. „Die Kirche spricht nicht über Strukturen der Umverteilung.“

Am ehesten befassen sich noch Jugendliche und Studenten mit der sozialen Ungleichheit. So fragt etwa das „studentische Zentrum Verantwortung übernehmen“ nach den „Auswirkungen des ökonomischen Denkens und Handels auf unsere Gesellschaft“ und die katholische Jugend bietet einen Workshop „Grundeinkommen für alle“ an.

Die EKD war schon weiter

Dieser eher beiläufige Umgang mit dem Thema Armut wirkt zunächst überraschend, denn noch im November hatte sich das evangelische Kirchenparlament, die EKD-Synode, auf die soziale Ungleichheit konzentriert. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk – Armut und Reichtum“, lautete das Schwerpunktthema. Im Abschlusspapier, der „Kundgebung“, wurde gefordert, dass es „gesellschaftlichen Wohlstand für alle“ in Deutschland geben müsse. „Denn in der Armut begegnet uns Christus!“ Weil „Reichtum verpflichtet“, sollte über Steuerreformen nachgedacht werden. Allerdings vermied die EKD-Synode explizit jeden allzu sozial-revolutionären Gedanken: „Wir plädieren nicht für eine Robin-Hood-Haltung, die meint es reiche aus, den Reichen Vieles zu nehmen und den Armen zu geben.“

Repräsentant der Mehrheit

Aber auch wenn die Ziele eher bescheiden waren, warum ist aus dem Schwerpunkt-Thema der EKD-Synode nicht auch ein Schwerpunkt für den Kirchentag geworden? Zumindest organisatorisch ist die Antwort einfach: EKD und Kirchentag haben nichts miteinander zu tun. Der Kirchentag wird von einem Trägerverein als Laienveranstaltung konzipiert. Der will mit seiner Losung „Lebendig und Kräftig und Schärfer“ gezielt „Fragen nach dem christlichen Profil der Kirche in den Vordergrund stellen“, wie Kirchentagssprecher Rüdiger Runge erklärt.

„Die Kirche ist einfach nur ein Repräsentant unserer Gesellschaft“, meint hingegen Frank Jäger von der Erwerbslosen-Initiative Tacheles in Wuppertal. „Sie tritt zwar als Lobby der Armen und Schwachen auf, aber letztlich bildet sie die Interessen der Mehrheit ab.“ Er fürchtet, dass die Kirche zunehmend dazu neigt, wie im 19. Jahrhundert Almosen zu verteilen statt den Sozialstaat zu verteidigen.

Diese desillusionierte Sicht kann Jens Peter Iven vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt nicht nachvollziehen: „Wir haben immer kritisiert, dass Hartz IV nicht zum Leben reicht.“ Dennoch will er nicht beziffern, wie hoch das Arbeitslosengeld II zu sein hat. „Solch konkrete Fragen sind Aufgabe der Politiker.“

Als Vertreter der Erwerbslosen wird Jäger heute an der Veranstaltung zu Hartz IV teilnehmen – als Vorprogramm. Er darf ein „Statement“ abgeben über seine Erfahrungen mit der Arbeitsmarktreform, bevor die eigentliche Diskussion beginnt. Die wird unter anderem von Arbeitsminister Franz Müntefering und von der Hartz-IV-Ombudsrätin und der einstigen Familienministerin Christine Bergmann (SPD) bestritten. Wie so oft erlebt Jäger auch auf dem Kirchentag, dass nicht mit den Erwerbslosen, sondern über sie geredet wird: „Die Prominenz sitzt auf dem Podium – und wir dürfen vom Katzentisch aus Fragen stellen.“