GASTKOMMENTAR
: Leben in der Sicherheitslücke

Bei der berühmten Ostberliner Demonstration am 4. November 1989 hörte ich, wie eine Frau zu ihrer Freundin sagte: Das war mein Traum, einmal auf die Straße gehen und laut sagen, was man denkt. Die andere sagte: Und morgen ist dann alles wie immer. Darauf die erste: Na und, dann war es wenigstens dieses eine Mal. Inzwischen ist das Recht zu demonstrieren zu einer unbefriedigenden Normalität geworden. Und während es zum Traum im Osten gehörte, sein Gesicht zu zeigen, geht es jetzt um das Recht auf Vermummung.

Vielleicht ist es auch eine Frage des Alters, ob Steineschmeißen als akzeptable Antwort auf staatliche Macht empfunden werden kann. Vielleicht fühlt sich jede junge Generation angesichts der Ohnmacht gegenüber der vorgefundenen Ordnung zu allen möglichen Mitteln legitimiert, ehe sie lernt, wie schwer es ist, diese Ordnung nicht nur zu bekämpfen, sondern wirklich zu verbessern. In dreißig oder vierzig Jahren sitzen vermutlich die Jungen von heute kopfschüttelnd beieinander und konstatieren, dass sie so „alterskonservativ“ geworden sind. Wie wir.

Mir jedenfalls ist der Gedanke, einen anderen Menschen mit Vorsatz körperlich zu verletzen, widerwärtig und ich kann nichts dagegen haben, wenn eine staatliche Ordnungsmacht das nicht zulassen will.

Ich kann nicht beurteilen, ob die Sicherheitskonzepte der Polizei richtig oder falsch, übertrieben oder angemessen sind. Aber ich habe den Eindruck, dass unser aller Sicherheitsbedürfnis in politischen, sozialen, gesundheitlichen Belangen ein unnatürliches Ausmaß erreicht hat. Je sicherer unser Leben geworden ist, je höher die Lebenserwartung, je leistungsfähiger die Medizin, umso unerträglicher erscheint uns jede Sicherheitslücke, was jede für Sicherheit zuständige bürokratische Einrichtung natürlich bis zum Übermut ermutigt. MONIKA MARON

Die Schriftstellerin arbeitete in der DDR als freie Autorin. Die Berlinerin ist Trägerin des Kleist-Preises.