Die Bibel gegen das Diktat des Marktes

Die Globalisierung und das Verhältnis zu den Muslimen sind Themen auf dem Evangelischen Kirchentag. Außenminister Steinmeier beschwört „weltumspannende Solidarität“ und den Austausch von Argumenten „ohne Zäune und Steine“

AUS KÖLN PHILIPP GESSLER

Die Politik ist auf dem seit Mittwoch in Köln laufenden Kirchentag angekommen – und neben den Problemen der Globalisierung scheint das Verhältnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu den Muslimen in ihrer Mitte zu den ersten bestimmenden Themen des großen Christentreffens zu werden.

In einem Grußwort nach dem Ende des Eröffnungsgottesdienstes rief Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die zehntausenden Christen auf dem rechtsrheinischen Poller Wiesen am Mittwochabend dazu auf, weiterhin ihre Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft wahrzunehmen und eine „weltumspannende Solidarität“ an den Tag zu legen. Es gebe in der heutigen Zeit angesichts der Globalisierung und gemeinsamer internationaler Probleme etwa in Sachen Klimapolitik nur noch eine „Weltinnenpolitik“: „Wir sitzen alle in einem Boot“, sagte der SPD-Politiker, dessen Auftritt ursprünglich nicht im Programm des Kirchentags mit seinen über 3.000 Veranstaltungen und 100.000 Dauerbesuchern vorgesehen war.

In einer Anspielung an den in Heiligendamm stattfindenden G-8-Gipfel zeigte der Außenminister sich zufrieden, dass auf dem Kirchentag Argumente „ohne Zäune und Steine“ ausgetauscht werden könnten.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) sprach sich in einer „Bibelarbeit“ über eine Stelle im Matthäus-Evangelium (4, 1-11) unter dem Beifall des Publikums dafür aus, das System der Weltwirtschaft politisch so zu reformieren, dass es nicht nur nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien funktioniere. Vor allem das internationale Finanzwesen müsse so gestaltet werden, dass es Investitionen statt Spekulation fördere. Zugleich forderte der Düsseldorfer Landeschef, ebenfalls mit einem Blick auf Heiligendamm, die Vorschläge der Globalisierungskritiker nicht gleich „vom Tisch zu fegen“, sondern ernsthaft zu prüfen – wobei er ausdrücklich betonte, er meine „die friedfertigen Kritiker“.

Angeheizt auch durch einen eher lokalen Streitfall, nämlich den geplanten Moschee-Neubau in Köln-Ehrenfeld, scheint das halb religiöse, halb politische Thema „Religionsfreiheit“ die evangelischen Christen des Kirchentags besonders zu bewegen – und für Schlagzeilen zu sorgen. So forderte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, unter dem Beifall des Publikums: Die Religionsfreiheit müsse „für Muslime in Deutschland ebenso gelten wie für Christen in der Türkei“. Es gebe für Christen keine Alternative zur Religionsfreiheit – für alle Religionen und an allen Orten.

Huber kritisierte Defizite bei der Religionsfreiheit in der Türkei und anderen vor allem muslimisch geprägten Staaten. Es sei eine „verhängnisvolle Einschränkung der Menschenrechte“, wenn in manchen dieser Länder die Abkehr vom Islam de facto nicht möglich sei. Huber erinnerte an die drei christlichen Missionare, die vor einigen Monaten in der Südtürkei von religiösen Fanatikern brutal ermordet wurden – einer von ihnen kam aus Deutschland.

Man müsse etwa, so Huber, auch in solchen Ländern offen sagen können, dass man vom Islam zum Christentum konvertiert sei. Ein „Appeasement“ mit muslimischen Vertretern und Staaten in Sachen Religionsfreiheit wäre ein Verrat an einem Grundrecht. Und: Eine Nennung der jüdisch-christlichen Wurzeln Europas in der Präambel der immer noch diskutierten EU-Verfassung sei nicht als Einschränkung der Religionsfreiheit zu verstehen, sondern betone den geistigen Hintergrund des zentralen Werts der Menschenwürde in der Verfassung, so Huber.

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