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Archiv-Artikel

Die geordnete Frömmigkeit

Die Deutschen pilgern durch die Welt. Klostergemeinschaften boomen. Selbst die Heiligkeit von Sportstätten wird diskutiert. Die Kirchen setzen auf den wachsenden Wunsch nach Spiritualität. Doch sie hinken nur einem fast überholten Trend hinter her

von ULRIKE HERRMANN

Kaum eine Veranstaltung auf dem Kirchentag war so gut besucht: Als der Benediktiner-Pater Anselm Grün gestern Morgen seine Bibelarbeit abhielt, musste die Halle wegen Überfüllung geschlossen werden (siehe unten). Grün ist einer der meist gelesenen spirituellen Autoren unserer Zeit; seine Bücher haben eine Gesamtauflage von über 14 Millionen Exemplaren erreicht.

Grün steht für einen neuen Wunsch nach Spiritualität, die den gesamten Kirchentag durchzieht. „Das liturgische Interesse hat stark zugenommen“, stellt Kirchentagspastor Jan Janssen fest. Waren die Kirchentage früher reine Bildungsveranstaltungen, so werden nun viele Diskussionsforen von Andachten gerahmt. Morgens, mittags, abends. „Die Tagesfragen werden mit ins Gebet genommen.“ Inzwischen beschäftigt sich sogar ein ganzer „liturgischer Tag“ mit der Frage, „was heilig ist?“ Janssen erinnert sich gut, dass „vor 30 Jahren diese Frage unter Protestanten noch nicht gestellt worden wäre.“ Jetzt aber wird selbst debattiert, „wie heilig sind Sportstätten?“

Auch das „Kirchentagskloster“ bedient diesen Trend zur Frömmigkeit. 21 evangelische und ökumenische Kommunitäten präsentieren sich dort gemeinsam. Das ist neu. „Früher haben die einzelnen Gemeinschaften eher gegeneinander gearbeitet“, räumt Joachim Hensel ein.

Der Landarzt gehört dem evangelischen Zisterzienserkloster Amelungsborn an, das exemplarisch zeigt, wie weit moderne evangelische Gemeinschaftsformen von einem traditionellen Kloster entfernt sein können. Die 40 Mönche führen ein normales Berufs- und Familienleben, wohnen verstreut in der ganzen Republik. Einmal im Monat treffen sie sich für ein Wochenende, singen gregorianischen Gesänge und feiern vier Mal am Tag die Stundengebete, die Horen. Ihre Lebensform weckt zunehmendes Interesse. „Kann ich bei Ihnen bleiben? Diese Frage hören wir immer häufiger“, sagt Hensel. „Die Zahl der Gemeinschaften steigt“, beobachtet auch Jürgen Johannesdotter, Landesbischof in Bückeburg und EKD-Beauftragter für den Kontakt zu den evangelischen Kommunitäten. 180 Gemeinschaften zählt er inzwischen. „Die Sehnsucht nach einer geordneten, nicht frömmelnden Frömmigkeit ist immer stärker geworden.“

Die Massen pilgern

Neben dem Kirchentagskloster steht in Halle 9 die „Pilgerherberge“. Denn die Deutschen pilgern begeistert, wie die Statistiken aus Santiago de Compostela zeigen. 1989 machten sich erst 648 auf den heiligen Weg durch Spanien, 2006 waren es bereits 8.097. Auch in Deutschland werden immer neue heilige Pfade eröffnet. Inzwischen sind in Deutschland rund 30 verschiedene Jakobswege beschildert. Hinzu kommen ökumenische Wege, sei es der Bonifatius-Weg von Mainz nach Fulda oder der Mönchsweg durch Schleswig-Holstein.

Stets gewachsen ist auch das „Zentrum für Stille und Meditation“, wo etwa in das „Herzensgebet“ eingeführt wird, bei dem im Rhythmus des Ein- und Ausatmens ununterbrochen der Name Jesu Christi angerufen wird. Besonders verbreitet ist diese Meditationsform in der orthodoxen Kirche, aber es finden sich auch protestantische Vorläufer im 17. Jahrhundert. „In der Gebetsfrömmigkeit gab es schon immer eine Ökumene“, erklärt Hansgünter Ludewig, Pastor aus Braunschweig, der die Herzensgebete anbietet. „Wo Sie hinsehen, von Afrika bis nach Skandinavien, lernt man voneinander.“

Zen für Christen

Man lernt auch von den Buddhisten. Die katholische Nonne Ruthild Völkel aus dem Orden der Vinzentinerinnen in Paderborn stellt die Zen-Meditation vor. „In jeder Religion finden Sie den Weg der Versenkung“, sagt die Kontemplationslehrerin. Die Buddhisten würden sich in die Leere versenken, während sich „die Christen auf das innerste Sein konzentrieren, das mit dem Göttlichen verbunden ist“.

Allerdings nutzt die neue Spiritualität nicht der Institution Kirche. Aus den Gläubigen werden keine Gemeindemitglieder mehr. Kirchen müssen geschlossen und Gemeinden zusammen gelegt werden. Und überhaupt: Wie neu ist der Trend zur Spiritualität überhaupt?

Pastor Ludewig aus Braunschweig hat den Eindruck, dass die Kirche den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hinterher hinkt. „Der Höhepunkt des öffentlichen Interesses an Meditationen ist doch längst überschritten“, konstatiert er. „Zu Zeiten der Beatles und von Bagwhan – da war Spiritualität eine Massenerscheinung.“