„Toleranz ist scheiße“

Er ist der bekannteste Russe in Deutschland: Wladimir Kaminer kam 1990 nach Berlin. Zuvor studierte der jetzt 40-Jährige Dramaturgie am Theaterinstitut in Moskau. Die taz veröffentlichte als erste seine Kurzgeschichten – später wurden seine Erzählbände „Russendisko“ und „Militärmusik“ internationale Bestseller. Kaminer gibt es aber auch zu hören: In seinem Kaffee Burger tanzen Deutsche und Zugewanderte zu einer osteuropäischen Musik zwischen Zigeuner-Punk, Balalaika-Rock‘n Roll und Klezmer-Ska. Auch in NRW findet die „Russendisko“ Nachahmer. Kaminer meldet sich auch immer wieder politisch zu Wort – nicht nur im Integrationsbeirat NRW. Angeblich will er 2011 als Oberbürgermeister für Berlin antreten. JOE

INTERVIEW ANNIKA JOERES und NATALIE WIESMANN

taz: Herr Kaminer, Sie sind Autor und DJ in Berlin. Warum machen Sie beim Integrationsrat in Nordrhein-Westfalen mit?

Wladimir Kaminer: Mir hat die Idee gefallen. Denn endlich sollen sich einmal die Menschen mit dem Thema Integration beschäftigen, die es tatsächlich betrifft. Und nicht irgendwelche Beamten. Das ist eine Art Selbsthilfegruppe.

Wobei kann sie denn helfen?

Zum Beispiel sollen die Migranten selbst den Sprachunterricht organisieren. Das ist wahre Multikulturalität, eine offene Geste. Der Integrationsbeirat will die Migranten selbst ins Boot holen.

Außer Ihnen sind aber vor allem etablierte Migranten im Beirat, zum Beispiel der grüne Politiker Cem Özdemir...

(lacht) Ja, Cem ist in jedem Beirat der Welt. Aber es stimmt, was sie sagen: Eigentlich müssten noch ganz andere Leute in dem Beirat sitzen, weniger Professionelle. Aber diese werden nicht gefragt. Die politische Klasse bleibt unter sich.

Vielleicht mischen sich MigrantInnen auch zu wenig ein.

Wo sollen sie sich denn einmischen? Ich lebe seit sechzehn Jahren in Berlin, der politischen Hauptstadt. Seitdem ich hier angekommen bin, wird aber immer weniger Politik gemacht, der Kapitalismus siegt über gewählte Politiker. Sie sind mit dem Ende der DDR und der Sowjetunion unwichtig geworden. Das Kapital braucht sie nicht mehr, um ihr Image zu verbessern. Aber gerade deshalb sind so kleine politische Initiativen wie der Beirat um so wichtiger.

Sie sind als junger Erwachsener nach Deutschland gekommen und nun sehr erfolgreich. Für Sie war Deutschland doch sehr offen.

Ich hatte Glück. Ich finde, Deutschland hat keine Erfahrung mit dem Zusammenleben von verschiedenen Kulturen. Hier werden Kulturen immer toleriert – ich will nicht toleriert werden. Toleranz ersetzt Verständnis, Neugierde und Gastfreundschaft. Toleranz ist scheiße.

Sie wird aber doch immer wieder beschworen, auch von der Migranten-Community.

„Ich will kein Vorbild sein, das hatte ich auch nie vor. Meine Kinder übernehmen auch nicht immer nur Gutes von mir – ich weiß gar nicht, ob ich ein gutes Beispiel sein kann“ „Der Mehrheitsbegriff ist eine große Lüge. Es ist eine Minderheit von Arschlöchern, die aus den Migranten eine Ausländerproblem machen. Und alle Welt schert sich dann darum“

Wenn ich sage: Ich toleriere den Freund meiner Tochter, dann heißt das doch: In erster Linie halte ich ihn für ein Arschloch, ich verachte ihn. Oder ich toleriere meine Schwiegermutter. Anstatt sie einfach leben zu lassen.

Was verstehen Sie denn unter Gastfreundschaft?

Ich habe gerade mit ein paar Türken gesprochen, die einen Club eröffnen wollen. Ich werde ihnen dabei helfen, ich weiß, die beiden sind intelligent. Wenn sie Verantwortung übernehmen können, dann ist es echte Integration, wenn sie aktiv werden können. Das will ich erreichen.

Mittlerweile reisen russische Fernsehteams an, um ihren „erfolgreichen Sohn in Deutschland“ zu feiern. Brauchen MigrantInnen vielleicht mehr Vorbilder?

Ich will kein Vorbild sein, das hatte ich auch nie vor. Ich weiß auch gar nicht, ob ich ein gutes Beispiel sein kann – meine Kinder übernehmen auch nicht immer nur Gutes von mir. Integration ist kein einzelnes Problem, was man an Personen fest machen könnte.

Woran denn?

Das ist flächendeckend. Die Welt hat sich neu erfunden – oder wird sich noch neu erfinden müssen. Nicht nur in Berlin Kreuzberg und nicht nur in Duisburg. Bürger aus verschiedenen Kulturkreisen werden sich weltweit nicht mehr los, die Mauern werden verschwinden, die Welt wird kleiner.

Die Mehrheit der Deutschen sieht das aber anders – sie betonen die deutsche Kultur, die CDU hält an einer Leitkultur fest.

Ach, allein dieser Mehrheitsbegriff ist eine große Lüge. Die Mehrheit ist ein Phantom, es gibt sie gar nicht. Das ist doch nur ein Paradoxon der heutigen Politik: Sie will alle bedienen und erfindet eine Mehrheit. Sie ist für die USA, aber gegen den Irak-Krieg, sie ist gegen Rauchen, aber auch gegen ein Rauchverbot. So werden aus Minderheiten Mehrheiten gebastelt. Menschen, die noch Überzeugungen haben, werden weggefegt, beschimpft. Das ist wie unter Stalin.

Wladimir Kaminer hat die Kultur der Russen in Deutschland populär gemacht: Seine Bücher sind Bestseller, seine legendäre „Russendisko“ gut besucht. Vergangenes Jahr wurde er in den Integrationsbeirat des Landes NRW berufen – für ihn eine Selbsthilfegruppe von MigrantInnen

Was meinen Sie damit?

Na, Stalin hat auch immer den linken und rechten Flügel seiner Partei bedient. Er wollte die Industrialisation auf Kosten der Landwirtschaft, am Ende wurde beides gefördert.

Sie sind also gegen Kompromisse?

Nein. Aber ich bin dagegen, eine urdeutsche Mehrheit zu erfinden. Die gibt es nicht. Es weiß doch jeder, dass es nur eine Minderheit von Arschlöchern ist, die aus den Migranten eine Ausländerproblem machen. Und alle Welt schert sich dann darum.

Halten Sie dann auch so etwas wie einen Integrationsgipfel, den Bundeskanzlerin Merkel einberufen hat, für schlecht?

Er entspricht dem Wunsch einer großen Minderheit, dass Politik sich mit den so genannten Ausländern beschäftigt. Vorher werden die Ängste der Bevölkerung geschürt, sie wollen beunruhigt werden. Und mit so einem Gipfel dann wieder beruhigt werden. Das sind alles Verallgemeinerungen.

In Ihren Büchern sprechen auch Sie immer von ‚den Ausländern‘.

Neben Wladimir Kaminer hat NRW-Integrationsminister Armin Laschet (CDU) etwa 20 weitere ExpertInnen aus Politik, Kultur und Wissenschaft zu seinen Beratern auserkoren. Das Gremium, das im Dezember 2006 zum ersten Mal zusammenkam, soll ihm helfen „einen breiten gesellschaftlichen Konsens in der Integrationspolitik“ herbeizuführen. Auffällig ist der hohe Anteil an Promis, von denen kaum einer in NRW lebt – etwa der grüne EU-Abgeordneter Cem Özdemir, Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth oder die umstrittene Islam-Kritikerin Seyran Ates aus Berlin. Die Mitglieder haben beschlossen, die Inhalte der Beratungen erst einmal geheim zu halten. Das sei produktiver, sagte Tayfun Keltek, Vorsitzender der kommunalen Migrantenvertreter in NRW und Mitglied des Integrationsbeirats, der taz. Seiner Meinung nach werde so vermieden, dass sich die Teilnehmer auf dem Rücken der Migranten profilieren – wie etwa beim bundesweiten Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin Angela Merkel. NAW

Ich meine dann aber immer konkret eine Gruppe: Die Ausländer aus dem Wohnheim XY, die sich in der Kneipe treffen oder ins Kino gehen. Leute aus bestimmter kultureller Tradition, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben. Dies sind reale Menschen eben aus dem Ausland. Ich spreche aber niemals für ganz Deutschland.

Ihre Russendisko, eine monatliche Veranstaltung mit östlicher Musik, ist doch extrem erfolgreich. Vielleicht könnten Sie die weiter verbreiten und doch für alle Ausländer sprechen.

Ich habe schon überlegt, auch einen Club in Nordrhein-Westfalen zu eröffnen. Die Russendisko verbindet. Vor fünfzehn Jahren war Amerika der nächste Nachbar, obwohl es tausende Kilometer entfernt ist. Das hat sich jetzt geändert, auch durch Musikveranstaltungen wie die Russendisko. Ich habe sie einmal in der deutschen Botschaft in Brüssel veranstaltet, für alle Politiker...

Und, haben sie auf den Tischen getanzt?

Natürlich haben sie getanzt. Sehen Sie das doch nicht so schwarz-weiß. Sie haben gute Abschlüsse gemacht, sitzen jetzt im Anzug in Brüssel, und tanzen dann auch mal auf dem Tisch.