Orte zum Überleben

KOOPERATIVE Das selbst verwaltete globale Landkommunenprojekt Longo maï existiert seit mehr als 40 Jahren – die Ausstellung „Die Utopie der Widerspenstigen“ im Freien Museum in Schöneberg feiert sein Wirken

„Die Beständigkeit bäuerlicher Erfahrung und bäuerlicher Weltsicht gewinnt im Moment, da sie von der Auslöschung bedroht ist, eine beispiellose und unerwartete Wichtigkeit“

SCHRIFTSTELLER JOHN BERGER

VON HELMUT HÖGE

Das Kollektivprojekt „Freies Museum“ zeigt eine Ausstellung über die Großkommune „Longo maï“ (was „Es möge lange bleiben“ auf Provenzalisch heißt). Der Andrang bei der Eröffnung war groß. Zur Eröffnung gab es ein üppiges Buffet mit Selbstproduziertem.

Longo maï wurde zur Hochzeit der westeuropäischen Landkommunenbewegung 1973 von einer Gruppe namens „Hydra“ gegründet und ist inzwischen ähnlich international organisiert wie „Die vielköpfige Hydra“. So nennen die Seefahrthistoriker Peter Linebaugh und Marcus Rediker das einstige transatlantische Netzwerk von Sklaven, Flüchtigen, Matrosen und Piraten in einem gleichnamigen Buch. Die neue „Hydra“ ging seinerzeit aus „Spartakus“, der unabhängigen Jugendsektion der österreichischen KP, hervor, die sich auf Lehrlingsagitation konzentrierte – und schon bald von Staats wegen des Terrorismus verdächtigt wurde.

Auf dem Gründungskongress der „Europäischen Pioniersiedlungen“ in Basel 1972 beschloss man, nach Südfrankreich auszuweichen, wo damals die Bevölkerung angefangen hatte, sich gegen den Bau eines riesigen Truppenübungsplatzes auf dem Hochplateau Larzac zur Wehr zu setzen: „Wir wollten in diesen Gebieten etwas anfangen, aber nicht als ‚Rückzug in die Natur‘, sondern als selbst verwaltete und gestaltete Orte, wo man überleben kann, nicht abhängig von einem Chef ist und sich seine eigene Lebensbasis schafft“, heißt es heute rückblickend.

Das ist ihnen gelungen und mehr als das: Heute gibt es Longo-maï-Siedlungen an elf Standorten – in Österreich, der Schweiz, der Ukraine, Deutschland (den „Ulenhof“ in Vorpommern) und Costa Rica (die Flüchtlingskooperative „Finca Sonador“). Sie produzieren Gemüse, Wein, Wolle, Kaffee, Fleisch und Obst, betreiben einen Radiosender, eine Holzverarbeitungsanlage, das „Longo-maï-Haus“ in Basel und eine Wollspinnerei in den Haute-Alpes. Außerdem sind sie weiterhin politisch aktiv. Davon zeugen die vielen Publikationen und Kampagnen-Flugblätter, die in der Ausstellung „Die Utopie der Widerspenstigen – 40 Jahre Longo maï“ ausliegen.

Das Ganze ist mit seinen Info-Stellwänden und Fotos fröhlicher Kommunarden auch eine Leistungsschau des Archipels „Longo maï“. Das Neue Deutschland würdigte dieses internationale Agrarprojekt und seine Ausstellung, die zuvor in Basel und in der Provence gezeigt wurde, auf drei Seiten. Eine Übersetzerin, unter anderem von Longo-maï-Texten, kennzeichnete das Projekt in ihrer Eröffnungsrede als gelungene „Mischung aus Chaos und guter Organisation“. Zu ihrer Stabilisierung gehören die „Essentials“: „Jede Kooperative verwaltet sich eigenständig / gemeinsame Kasse / Kein Lohn.“ Zudem wird zwischen den Dépendancen oft hin und her gereist. Bewegung bringen auch die vielen Erweiterungs- und Neubauvorhaben in den einzelnen Kooperativen, indem sie Hilfe von außen (etwa von fahrenden Zimmerleuten) benötigen.

Hinzu kommt die aus vielen Landkommunen- und Kibbuzerfahrung bekannte Erscheinung, dass die Kinder („die dritte Generation“ in Longo maï genannt) irgendwann in die Stadt zieht – und sei es nur, um sich dort mal umzutun.

Randgruppe Bauern

Bis in die fünfziger Jahre waren fast 80 Prozent der Bevölkerung Europas Bauern. Heute sind sie nur noch eine Randgruppe. Für Eric Hobsbawm ist dies das „wichtigste Phänomen im 20. Jahrhundert“. Das Ausstellungsmotto nimmt darauf Bezug: „Beständigkeit bäuerlicher Erfahrung und bäuerlicher Weltsicht gewinnt im Moment, da sie von der Auslöschung bedroht ist, eine beispiellose und unerwartete Wichtigkeit.“ Das schreibt britischen Schriftsteller John Berger, der im Haute-Savoy lebt und unter anderem eine Trilogie über das Landleben veröffentlichte.

Parallel zur Ausstellung gibt es eine Veranstaltungsreihe, auf der eine Kollektion selbst produzierter Textilien vorgeführt wird, und Filme, etwa zum Thema Wollverarbeitung.

Dazu gehört das Herausstellen der politischen Dimension ihrer Bemühungen um den Erhalt von Schäfereien und deren Wanderwege, die es zu sichern gilt. Neben ihrer agrarischen Immobilisierung geht es auch um nomadisches Engagement. Dazu zählt das „Europäische Bürgerforum“, das als „politische Dachorganisation der Longo-maï-Kooperativen“ (Andreas Buro) fungiert. Dieses Forum gibt die Zeitung Archipel heraus. Ein Archipel ist eine Inselgruppe inklusive dem, was dazwischenliegt.

■ „Longo maï – 40 Jahre Utopie und Widerspenstigkeit“, bis 15.11. im Freien Museum, Bülowstr. 90