„Die Beine da sind auch von mir“

Eberhard Wallor ist auf ganz eigene Art in die Kunstgeschichte eingegangen. Der spätere Mitarbeiter des Bremer Kulturamtes war in den 50ern das Topmodel der deutschen Bildhauerszene. Anhand seiner Gestalt wurde das Frankfurter Ebert-Denkmal errichtet und der Opfer des 17. Juni gedacht

Von Henning Bleyl

„Mein Kopf passte damals siebeneinhalb Mal in den Körper.“ Über solche Detailinfomationen verfügen in der Regel entweder MedizinstudentInnen oder Models. Eberhard Wallor, der seine Proportionen so genau kennt, war das Topmodell der Fünfziger Jahre. Insbesondere die Größen der Berliner Kunstszene wie Fritz Cremer und Richard Scheibe schätzten Wallors Ausdauer und körperlichen Ausdruck. Wallor war „Der schöne Mann“, und so heißt auch die Ausstellung im Bremer Gerhard-Marcks-Haus, die mit der Fokussierung auf das Modell einen originellen Zugriff auf die permanenten Fragen der Bildhauerei nach dem Verhältnis zwischen Abbild und Gehalt gefunden hat.

Heute passen zwei, drei Köpfe mehr in den Körper. Wallor ist 72, aber wenn er für die Fotografen vor seinen bronzenen Ebenbildern posiert, hat sein Stand eine Ruhe, die geradezu ins Auge fiele – wenn der Vergleich nicht so hinkte. Wallor jedenfalls ist immer noch durch und durch Profi, auch wenn er seit 50 Jahren nicht mehr Modell stand. Ende der Fünfziger verschlug es Wallor nach Bremen, „das ist nicht die Stadt für sowas“. Dafür fand der zurückhaltende Mann einen Job im Kulturamt und arbeitete sich dort bis zum Geschäftsstellenleiter hoch.

Mit sichtlichem Wohlgefallen streift Wallor durch die Räume des Marcks-Hauses. Eine solche – oder überhaupt eine – Zusammenstellung seiner Abbilder gab es noch nie. Die Entstehung der Ausstellung hängt damit zusammen, dass das Marcks-Haus – „das Bildhauermuseum des Nordens“ – vor anderthalb Jahren den Nachlass von Walter Grzimek erbte und daraus die Ausstellung „Ein Platz für Plastik“ machte – Grzimek ist ein Cousin des Tierfilmers. Wallor, als Rentner mittlerweile in Tarmstedt zwischen Bremen und Hamburg ansässig, erkannte sich bei einem Besuch mehrfach wieder und weckte das Interesse der KuratorInnen.

Das Marcks-Haus nutzt den biographischen Zufall geschickt, um grundsätzliche Probleme der Bildhauerei zu veranschaulichen. Etwa den Ansatz von Wilhelm Gerstel, seinerzeit Leiter der Bildhauerklasse an der Berliner Hochschule für Bildende Künste, plastische Vorbilder nicht zu sehr von der Ansicht, sondern von deren Volumina her zu begreifen. In mehreren Räumen ist nachzuvollziehen, wie die Gerstel-Schüler – zu denen eben auch Grzimek und Seitz gehören – diese Maxime umsetzten. Die Suche nach Strukturen im Körper immunisierte offenbar weitgehend gegen den bereits Ende der 20er aufkommenden habituellen Heroismus. Die Gerstel-Schüler (die im Gegensatz zu staatstragenderen Künstlern alle an die Front mussten) schufen bewegte, auch fragile Gestalten, die jetzt einen Seitenflügel des Marcks-Hauses mit Spannung füllen.

Wallor ist auf ganz eigene Art substantieller Teil der Kunstgeschichte geworden. Im Marcks-Haus sieht man ihn in als Scheibes überlebensgroßen „Zehnkämpfer“, natürlich auch in diversen Abstraktionen wie in den taillereduzierten Figuren à la Gustav Seitz, der Wallors Formen in blockig-gerade Gestalten transformierte.

Wallor stand Modell für das Frankfurter Friedrich Ebert-Denkmal und gab den „Opfern des 17. Juni“ in der Berliner Stauffenbergstraße Gestalt. „Die Beine da vorne sind auch meine“, sagt Wallor unvermittelt und zeigt auf Scheibes „Schwesterngruppe“. Für bildhauerische Detailprobleme waren Individualität und Geschlecht der Modelle noch nie erheblich. Auch in der Version „lendenbeschürzter Jüngling mit Lamm über den Schultern“ kann man Wallor im Marcks-Haus betrachten – schließlich schätzte auch die niedlichkeitsvernarrte Renée Sintenis die Wallorschen Modelltugenden. Insofern ist er in einem Atemzug mit dem Berliner Bären und dem „Bambi“ zu nennen, die ebenfalls von Sintenis modelliert wurden.

Entwickelt man nicht eigene Ambitionen, wenn man den künstlerischen Prozess so intensiv vis à vis miterlebt? Wallor winkt ab: „Bei mir sind immer nur Kohlköppe rausgekommen.“ Der Mann nimmt sich zurück. Er habe noch nicht mal Lieblingsplastiken, sagt Wallor. Für den Künstler sei das Modell ohnehin nur Korrektur der eigenen Imagination. „Bei Henry Moore sieht man auch nur einen Pfannkuchen mit so einem Dings dran.“

Als Modell sah sich Wallor nicht nur mit verschiedensten künstlerischen Auffassungen konfrontiert, sondern geriet auch in politische Zwickmühlen. Zunächst war es unproblematisch, an den Kunsthochschulen sowohl in Ost- als auch in Westberlin zu arbeiten. 1951 jedoch wurden Grzimek und Seitz aus ihren Ämtern an der Charlottenburger Kunsthochschule entfernt, die zunehmenden Spannungen zwischen den Siegermächten brachten auch Wallor unter Druck: Wer im Westen modelte, war im Osten nicht mehr erwünscht – und umgekehrt.

Auch ohne den Kalten Krieg war das Modell-Geschäft kein Zuckerschlecken. Eine am Boden befestigte Schlaufe garantierte die exakte Reproduzierbarkeit der Körperhaltung, aber eigentlich hatte Wallor solche Reißzwecken-Tricks nicht nötig. Er konnte eine Dreiviertelstunde – mit vorgestreckter Zügelhand – als Reiter posieren, wie er bereitwillig demonstriert. Der Hintergrund der Wallorschen Körperbeherrschung ist seine Herkunft aus einer Artistensippe. Die Familie wurde mit einem „neuartigen Sportakt mit Original-Tricks“ bekannt – die Spezialität war Fahrradakrobatik – als einträglicher erwies sich jedoch das Modell-Stehen. Mit vier Mark die Stunde sei das 1948 ein hervorragend bezahlter Job gewesen, erzählt Wallor, „das war ja auch eine sehr prüde Zeit“. Sein Vater stand ebenfalls Modell, „in der Nachbarschaft wurde das bestimmt nicht erzählt“.

Wallor hatte als „muskelkräftiger fettreicher Mischtyp“, als der er auch im zeitgenössischen Anatomie-Atlas verewigt ist, nicht nur die richtigen Körpermaße, sondern verfügte auch über die notwendige Diskretion. Anders gesagt: Er ist ein Mann mit Stil – der „Bild“-Kollege daher chancenlos, als ihn vor allem interessiert, wie „das mit den Studentinnen“ denn so gewesen sei: „Das möchte ich jetzt nicht kommentieren.“ Lieber läuft Wallor nochmal um die Räume – und erinnert sich.

„Der schöne Mann“: Bis 12. August im Bremer Gerhard Marcks Haus. Eröffnung am Sonntag um 11.30 Uhr