Kreatur der Nacht

KINO Der brasilianische Regisseur Davi Pretta porträtiert in seinem Langfilmdebüt „Castanha“ einen Transvestiten in Porto Alegre

Ein Film über Neonlicht: Selbst durch das Fenster der kleinbürgerlich eingerichteten Wohnung, die João Carlos Castanha mit seiner alten, aber noch immer rührigen Mutter bewohnt, dringen die farbigen Lichtwellen gelegentlich ein, legen sich auf die Gesichter wie eine zweite Haut. Castanha tritt nachts in Schwulenbars in Porto Alegre als Transvestit auf, tagsüber surft er im Internet und probt für ein Theaterstück, das von seinem eigenen Leben inspiriert zu sein scheint.

Er ist 50 Jahre alt, wirkt aber älter, das Gesicht ist tief zerfurcht, sein Husten klingt nicht gesund. Sein Arzt würde es gern sehen, wenn er aufs Nachtleben mitsamt Alkohol und Zigaretten verzichtet. Castanha aber fühlt sich, merkt man schnell, in der stets eher schummrig halbdunklen als grell gleißenden Neonillumination der Nacht wohler als im seinerseits eher stumpfen und fahlen Licht des Tages. Was nicht heißt, dass Castanha sich vor irgendjemand verstecken müsste oder in den Schutz der Dunkelheit flüchten würde. Der Film bleibt da ganz nüchtern: Castanha ist einfach eine Kreatur der Nacht, die im Neonlicht genauso natürlich bei sich und zu Hause ist wie andere in der Sonne.

Davi Pretto, ein junger brasilianischer Regisseur, der hier seinen ersten, insgesamt überaus souveränen Langfilm abliefert, hat diesem auf Anhieb eindrucksvollen Menschen einen komplexen Porträtfilm gewidmet, der zwischen dem dokumentarischen Blick auf die Alltagswelt des Protagonisten und in unterschiedlichem Ausmaß fiktionalisierten Szenen hin- und herwechselt.

Küchentisch und Tänzer

Das passt einerseits gut in den Film, weil es sowieso dauernd um Selbstfiktionalisierungen des – im wörtlichen Sinne – Lebenskünstlers Castanha geht. Andererseits könnte man auch sagen: Genau deshalb sind die fiktionalen Zusätze ein wenig unnötig. Seltsam hilflos wirken die Hinzuerfindungen Prettos jedenfalls, verglichen mit dem erstaunlichen Effekt, den es hat, wenn der eben noch mit seiner Mutter am Küchentisch sitzende alte Mann plötzlich in voller Montur auf der Bühne zu sehen ist und die Penisse junger Tänzer kommentiert.

Castanha, seine Mutter und die meisten anderen Figuren spielen sich selbst, auch die angenehm unspektakulär abgefilmten Showauftritte in den wenig glamourösen Locations sind authentisch. Dazwischen dringen surreale, teils traumartige Bilder und auch offensichtliche Nachinszenierungen in den Film ein. Letztere sind die mit Abstand schwächsten Momente des Films; insbesondere eine Nebenhandlung, die sich um einen (von einem Schauspieler verkörperten) Neffen Castanhas dreht, bleibt in ihrer fernsehspielartig drögen Inszenierung dem ansonsten sehr stilsicheren Film äußerlich.

Wenn solche Misstöne dem Film im Ganzen wenig anhaben können, dann liegt das an der Hauptfigur, an dem melancholisch, aber selbstbewusst in sich selbst ruhenden Castanha, der in den seifenopernartigen Passagen kaum eine Mine verzieht. Vielleicht denkt er sich da: Ich habe schon viel erlebt, das hier werde ich auch noch aushalten. Und bald geht es wieder hinaus in die Nacht, hinein ins Neonlicht. LUKAS FOERSTER

■ „Castanha“. Regie: Davi Pretto. Brasilien 2014, 95 Min. Sputnik