HALBERSTADT ZEIGT DIE BEDEUTUNG DER KULTUR IN DER OST-PROVINZ
: Helden des Alltags

In diesen Tagen werden sie wieder geschwenkt, die Fähnchen. Auf WM-Revival-Partys versuchen einige Fans, sich in den Fußballtaumel des Sommers 2006 zurückversetzen. Leider gab es an diesem Wochenende auch ein Revival der anderen Art. In Halberstadt wurde ein Ensemble des örtlichen Theaters nach einer Premierenfeier brutal zusammengeschlagen. Ein Vorfall, der schmerzhaft an einen gern verdrängten Aspekt des WM-Jahres erinnert: die Debatte über ostdeutsche No-go-Areas – jene Gegenden, die dunkelhäutige WM-Besucher auf ihrer Deutschlandreise lieber meiden sollten.

An der Lage in den fraglichen Gebieten hat sich seither nicht viel geändert. Zurückgegangen ist lediglich das öffentliche Interesse an dem Problem, jetzt, wo es nicht mehr um Deutschlands internationales Ansehen geht. Doch am diesem Wochenende hat es einmal keine anonymen Opfer getroffen, sondern Sänger, Schauspieler und Tänzer – Leute also, die qua Beruf in der Öffentlichkeit stehen. Sie sind diejenigen, die in vielen Städten der ostdeutschen Provinz als Letzte noch für so etwas wie ein öffentliches Leben sorgen – neben eingeschüchterten Kommunalpolitikern und den eingeigelten Überresten einer lokalen Intelligenz, die zum größten Teil schon abgewandert ist.

Theater ist seiner Natur nach öffentlich. Allein das ist an manchen Orten schon subversiv. Deutschland ist stolz auf sein weltweit einzigartiges Theatersystem. Doch oft wird bei diesem Lob die besondere Rolle der Ost-Bühnen ausgeblendet. Von den großen Mehrspartenhäusern stehen 40 Prozent in Ostdeutschland, und das bei einem Bevölkerungsanteil von weniger als 20 Prozent – ein Erbe der deutschen Kleinstaaterei wie der SED-Kulturpolitik. Allesamt sind sie Großbetriebe mit mehreren hundert Beschäftigten; in Kleinstädten wie Neustrelitz oder Meiningen, Annaberg-Buchholz oder Radebeul zählen sie überdies oft zu den größten Arbeitgebern in der Gegend.

Bei Haushaltskürzungen stehen die Bühnen schnell im Fokus, denn die Theaterdichte in der ostdeutschen Provinz ist nach westdeutschen Effizienzmaßstäben nur schwer zu rechtfertigen. Auch die zugereisten Künstler, die alle paar Jahre das Engagement wechseln und oft nur notgedrungen ein paar Jahre in der Einöde verbringen, wirken dort bisweilen wie Fremde. Doch genau das ist ihre Rolle in Gegenden, in denen es sonst kaum noch Austausch und öffentliches Leben gibt.

Allerdings: Ein Theater ersetzt noch kein Programm gegen Rechts. Das wäre politisch denn doch zu viel – und künstlerisch zu wenig – verlangt.

RALPH BOLLMANN