Die Schieß-Gesellschaft

ALLTAG Der Chef vom Schützenclub Mitte. Der Jugendpokalsieger mit der Luftpistole. Der Waffenladenbesitzer. Und die Jägerin. Wenn Waffen etwas ganz Normales sind

72 Fälle von Straftaten gegen das Waffengesetz erfasst die Kriminalstatistik Berlin für das Schuljahr 2009/2010 in der Kategorie Straftaten mit Tatörtlichkeit Schule und Schulweg.

121 Todesopfer durch Sportwaffen listet die Initiative „Keine Mordwaffen als Sportwaffen“ seit 1991 in Deutschland auf.

152 Vereine unterstehen dem Schützenverband Berlin-Brandenburg.

189 Tötungsdelikte gab es in Berlin 2010. Zwölf davon mit Schusswaffen.

365 Mal wurde 2010 in Berlin bei einer Straftat mit einer Schusswaffe geschossen, davon waren 96 Gewaltdelikte.

505 Schusswaffen wurden laut Kriminalstatistik 2010 in Deutschland gestohlen.

621 Mal wurde 2010 in Berlin bei einer Straftat mit einer Schusswaffe gedroht.

683 Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz wurden 2010 in Deutschland gemeldet.

1.016 Fälle von Jagdwilderei nach § 292 StGB weist die Kriminalstatistik für Deutschland 2010 auf.

1334 wurde die Schützengilde zu Spandau gegründet, der älteste Verein in Berlin-Brandenburg.

2.628 Verstöße gegen das Waffengesetz wurden 2010 in Berlin gemeldet.

6.250 Mitglieder hat der Schützenverband Berlin-Brandenburg. Der Bayrische Schützenbund ist der größte: 474.127 Mitglieder.

37.655 Straftaten gegen das Waffengesetz wurden 2010 in Deutschland von der Kriminalstatistik verzeichnet.

1.415.587 Mitglieder hatte der Deutsche Schützenbund 2010.

Mitte, Straßburger Straße 6–8. Berlin-Mitte hat vieles zu bieten. Die angesagtesten Läden Europas, den Fernsehturm und eine Menge hipper Cafés. Im Schützenclub Mitte ticken die Uhren anders. Das Ambiente dort ist zweitrangig. Es regiert die Zweckmäßigkeit. Der Aufgang im Hinterhof einer typischen Berliner Gewerbeanlage erinnert an die DDR-Amtsstuben. Es riecht nach Linoleum und Reinigungsmittel. Aber das interessiert im SC Mitte nicht. Wer hier Mitglied ist, teilt die gleiche Leidenschaft. Die Begeisterung für Präzision, Konzentration und die Schönheit von Waffen.

Norbert Päsler ist erster Vorsitzender des SC Mitte: „Hier trifft sich die ganze Gesellschaft. Der Rechtsanwalt und der Hartz-IV-Empfänger. Hier kommen sie alle zusammen“, sagt er. 115 Mitglieder hat der SC Mitte. Darunter auch einige Mädchen, die man in den Szeneclubs vermuten möchte. Päsler nennt sie seinen „Sack Flöhe“, immer aufgeregt durcheinanderredend – bis sie ihre Waffe in die Hand nehmen. Dann ist der Sack zu und die Konzentration da. „Meditativ“, nennt Päsler das. Es ist ein Erlebnis, das nicht unumstritten ist.

Wer sich im linksliberalen Mitte als Sportschütze outet, kann in der Kita schnell Probleme bekommen. „Waffen? Mitten in Mitte?“ Das ist für viele undenkbar. Deswegen müssen sich die Schützen etwas einfallen lassen, wenn sie mit ihren Waffen ins Vereinshaus fahren. Zum Beispiel extra angefertigte Geigenkoffer: „Da kann man in der Tram stehen und keiner merkt, dass man gerade eine Smith & Wesson Kaliber .357 Magnum dabeihat“, erzählt Pässler. Die Schützen müssen sich verbergen. Ein Mitglied des SC Mitte ist Bundestagsabgeordneter. Er firmiert im Club unter falschem Namen. Parlamentarier mit einem Faible für Waffen? Das käme nicht gut an. Norbert Päßler erzählt von einer 14-jährigen Nachwuchsschützin. Sie hat mit ihrem Wunsch zu schießen eine wilde Debatte zwischen ihren Eltern provoziert. Der Vater ist glühender Pazifist, die Mutter auch – nur dass sie früher Biathlon gelaufen ist. Sie kann ihre Tochter verstehen. JUSTUS WILHELM

Strausberg, Landhausstraße 16–18. Erik zieht die Luft tief durch die Nase ein und steht still. Seine linke Hand hat er fest in den Hosenbund geschoben, damit sie nicht wackelt. In der rechten Hand hält er die Pistole. Der Lauf ist auf die zehn Meter entfernte Zielscheibe gerichtet. Erik bewegt die Pistole kaum, bis Visier und Ziel auf einer Sichtachse liegen. Mit einer winzigen Bewegung des Zeigefingers drückt er den Abzug. Es knallt, die Zielscheibe schwankt, er atmet aus. Ein schwarzes Loch in weißem Papier. Das kleine Bleiprojektil hat einen der äußeren Ringe der Zielscheibe durchschlagen. Erik schüttelt den Kopf. Er hätte ins Schwarze treffen müssen, in einen der inneren Ringe, wo es die meisten Punkte gibt.

Erik Buchmann ist gerade 13 Jahre alt geworden. Ein kleiner, zarter Junge mit wachen, dunklen Augen. Er tritt beim Jugendschützenpokal in der Disziplin Luftpistole an. Nach diesem Durchgang liegt er auf Platz drei. Jetzt kommt es auf die Leistung der anderen an.

Erik ist auf dem Schießstand groß geworden. Die Eltern sind beide Sportschützen, er selbst darf mit Sondergenehmigung schon seit seinem elften Lebensjahr schießen. Wie jeder Junge liebt Erik das „Peng“, wenn er auf den Abzug drückt, und das Loch in der Zielscheibe. Zu Hause blättert er durch Waffenkataloge, weil er sich eine neue Luftpistole wünscht. Erik erfüllt ein Klischee und er weiß um die Wirkung. „Wenn ich draußen im Garten mit meinem Holzgewehr spiele, will ich ganz für mich sein. Sobald Leute vorbeikommen, lege ich das Gewehr weg. Ich will nicht, dass jemand denkt, ich sei gestört.“ Die Skepsis der Menschen ist ihm unangenehm, und er versteht sie nicht, denn Erik ist ein ganz normaler Junge. Er liebt Schiffe, Modellbau und Fantasy-Geschichten, besonders wegen der Drachen. In seinem Kinderzimmer hängt ein einziges Bild – darauf ist ein großer roter Drache, keine Waffe.

Eine Waffe nicht auf einen Menschen zu richten ist für Erik normal und das sollte es auch für jeden anderen sein. „Ich finde diese Angst vor Amokläufern ein bisschen übertrieben. Kranke gibt es überall, dafür muss ich kein Schütze sein.“

Die letzten Zielscheiben der anderen Kinder laufen durch die Zählmaschine. Der verpatzte Schuss hat nicht geschadet. Erik gewinnt den Pokal. LAURA RÉTHY

Friedrichshain, Frankfurter Allee 78. Im Schaufenster von „Soldier of Fortune“ steht eine verträumte Frau mit einem Schwert in der Hand. Das Plakat hat Pawel Swerdlow aufgehängt. Er ist der Besitzer des Waffenladens. „Wie die Frau im Bild haben auch die Waffen was Romantisches“, sagt Swerdlow. Er kommt ins Schwärmen, wenn er über die Geschichte der Waffen spricht, die mit Abenteuern verbunden sei, die ein Gefühl vom freien Leben gebe – und den Adrenalinkick. Aber romantisch? „Waffen wecken in vielen Männern die Sehnsucht nach etwas, was sie aus der Routine des Alltags rauszieht.“ Sagt Pawel Swerdlow.

In seinem Laden verkauft er Softairwaffen, die man ohne einen Waffenschein kaufen kann, Paintball-Ausrüstungen und viele Messer. Einige von ihnen sind einfache Werkzeuge, andere sind aber „Kunststücke der Schmiedekunst“, wie er sagt. Sie bestehen aus mehreren hundert Schichten geschmiedetem Stahl. Samurai-Schwerter zum Beispiel. „Ein Samurai-Schwert ist nicht nur ein Mordgegenstand, sondern ein Teil von sich selbst. Es ist die Verlängerung der Seele des Menschen. Es schafft eine Harmonie zwischen dem inneren Leben und der Außenwelt.“

Pawel Swerdlow, ein drahtiger Mann mit wachen Augen, kommt 1993 von Sankt Petersburg nach Deutschland. 2005 gründet der studierte Schiffbauingenieur mit einem Bekannten aus Russland einen Onlineversand, der auf Sport- und Freizeitwaffen spezialisiert ist. Der Waffenladen in Friedrichshain kommt 2009 dazu.

Der Ausdruck „Waffennarr“ gefällt ihm überhaupt nicht. „Wenn es um Waffen und Messer geht, geht es um Vernunft und Verantwortung. Und jemand, der so was in die Hand nimmt, darf sich nicht Narr nennen, er darf kein Narr sein“, sagt Pawel Swerdlow. „Ich bin der Meinung, dass die Mehrheit dieser Leute viel verantwortlicher handeln als die Bürger, die mit Waffen nichts zu tun haben.“ ANNA FRENYÓ

Mühlenbeck, 20 Kilometer nördlich von Berlin, Fischerweg. Sabine Schenski sitzt seit vier Stunden still. Um sie herum herrscht Ruhe. Nur entfernt hört man leise die Autobahn. Ein paar Füchse hat sie gesehen und ein Reh mit seinem Kitz. „Nicht viel“, sagt Sabine Schenski. Sie hat nichts anderes erwartet. Es ist heiß und die Tiere suchen das Kühl von Büschen und Wasserlöchern.

Auf eineinhalb Quadratmetern hat sich Sabine Schenski eingerichtet, drei Meter über der Erde auf einem Hochsitz. Es riecht nach gemähtem Heu und nach Holz. Sie sitzt auf einem Stuhl, das Fernglas hängt um ihren Hals, das Gewehr lehnt geladen und gesichert in der Ecke. Eine 40 Jahre alte Bockbüchsenflinte, die durch einige Jägerhände gegangen ist, bevor Sabine sie für 200 Mark gekauft hat.

Sabine Schenski, 64, ist seit 46 Jahren Jägerin. Schon der Vater war leidenschaftlicher Jäger, der seiner Tochter von klein auf den bewussten Umgang mit der Natur beibringt. Denn das ist die Jagd. Nicht sinnloses Töten wehrloser Tiere. „Für die meisten Leute sind wir Mörder. Dass wir uns für Artenschutz einsetzen, will man nicht hören“, sagt sie und es macht sie auch nach all den Jahren noch sauer. „Weil das Wild in Deutschland keine natürlichen Feinde hat, heißt Artenschutz eben auch, die Zahl des Wildes mit der Waffe zu regulieren.“

Den Einsatz der Waffe müssen Jäger immer wieder trainieren. Denn oberstes Gebot ist, dass das Tier nicht leidet. Der Jäger muss ein perfekter Schütze sein, und die Waffe muss ganz persönlich auf ihn abgestimmt sein.

Sabine Schenski greift zum Fernglas. Rechts aus dem Wald kommt ein junger Bock. Schießen darf sie ihn nicht. Für diese Wildart ist im Juni der Jagdplan erfüllt. Welches Wild wann und in welcher Zahl geschossen werden darf, ist genau festgelegt. Gut für den Bock.

Heute ist Sabine Schenski mit dem Förster rausgefahren. Der sitzt auf einem Hochsitz einige hundert Meter entfernt. Plötzlich ein Schuss. „Wusst ich’s doch“, murmelt Schenski. Und greift zum Handy. „Waidmanns Heil?“, fragt sie den Förster. Er hat getroffen. Einen Frischling, ein junges Wildschwein. Jetzt muss sie besonders aufmerksam sein. Vielleicht bewegen sich die Tiere in ihre Richtung.

Es ist fast dunkel. Nichts regt sich. Um halb elf am Abend entschließt sich Sabine, abzubrechen. Die Mücken sind unerträglich geworden. Der Förster holt sie mit dem Auto ab. Im Kofferraum liegt der Frischling in einer roten Plastikwanne. LAURA RÉTHY