Der Krieg der Kartelle

LEBEN UND STERBEN IN CIUDAD JUÁREZ Der Kampf um die Stadt weitet sich aus. Erst Drogenmafias, dann kriminelle Jugendbanden und jetzt alle, die das Recht des Stärkeren mit Gewalt durchsetzen wollen

 Ciudad Juárez ist eine Stadt, die es nicht geben sollte. Zumindest nicht so, als Welthauptstadt des Verbrechens. 2008 gab es rund 1.000 Morde, 2009 waren es gut 2.000 und im vergangenen Jahr über 3.000. Und das in einer Stadt mit gerade 1,3 Millionen Einwohnern. Statistisch gesehen sind Bagdad oder Kabul im Vergleich dazu sichere Orte. Und nichts deutet darauf hin, dass es 2011 besser werden könnte.

■  Teil I und Teil II berichteten: Ciudad Juárez hat schon immer von der Grenze gelebt. Zur Zeit der Prohibition in den USA haben sich hier die Alkoholschmuggler eingedeckt. Danach kamen die Kranken, weil eine Behandlung in Mexiko viel billiger ist als jenseits der Grenze. Dann profitierte die Fertigungsindustrie aus dem Norden von zollfreien Produktionszonen. Und schließlich übernahmen die Drogenkartelle die Herrschaft am Tor zu ihrem wichtigsten Markt. Der labile Friede zwischen diesen Mafias hielt bis Anfang 2008.

VON TONI KEPPELER
(TEXT) UND TEUN VOETEN (FOTOS)

Als im Januar 2008 der mit dem Juárez-Kartell verbündete Drogenboss Alfredo Beltrán Leyva alias „El Osito Bimbo“ (das Bimbo-Bärchen) verhaftet wurde, glaubte dessen Bruder, der Chef des Sinaloa-Kartells „El Chapo“ Guzmán habe ihn an die Polizei verpfiffen. Als Rache wurde am 9. Mai Edgar Guzmán, der Sohn von „El Chapo“, bei einer Schießerei vor der Bar Bilbao in Culiacán im Bundesstaat Sinaloa niedergestreckt. In derselben Stadt fand man am 29. Oktober die verbrannte Leiche von José Cruz Carrillo Fuentes. Er war der jüngste Bruder von „El Viceroy“, dem Chef des Juárez-Kartells.

Das Gemetzel zwischen den beiden Familien hatte Folgen. „El Chapo“ blies zum Großangriff auf Ciudad Juárez. Dort hatte der damalige Bürgermeister José Reyes Ferréz im September gut 500 Polizisten wegen Korruption entlassen. Die von „El Viceroy“ aus korrupten Beamten und Ordnungshütern aufgebaute Hilfstruppe „La Linea“ war empfindlich geschwächt worden – und damit auch das Kartell von Juárez.

„El Chapos“ Chance

„El Chapo“ hatte auf eine solche Chance nur gewartet. Und er war vorbereitet. Er rückte nicht – wie bei Kartellen vorher üblich – mit schießwütigen Pistoleros an, die man unter Arbeitslosen und Kleinkriminellen rekrutiert hatte. Er kam mit einer disziplinierten Truppe von 500 Paramilitärs, die von korrupten Soldaten einer Eliteeinheit der Armee ausgebildet worden waren. Vor Ort schloss er sich mit kriminellen Jugendbanden zusammen, die ohnehin einen starken Schutzpatron suchten. Denn das Juárez-Kartell hatte nur mit der Gang „Los Aztecas“ zusammengearbeitet und dieser den lokalen Drogenmarkt mit seinen 6.000 Verkaufsstellen überlassen. Die anderen großen Jugendbanden – „Los Mexicles“, „Artistas Asesinos“ (die künstlerischen Mörder) und „La Gente Nueva“ (die neuen Leute) – fühlten sich übergangen. Sie ließen sich gerne von „El Chapo“ unter die Arme greifen.

Der Kampf um Ciudad Juárez weitete sich so von den Kartellen auf die rund 80.000 Mitglieder von Jugendbanden aus. Und er diversifizierte sich: Es geht nicht mehr nur um die Kontrolle von Transportwegen in die USA und auch nicht nur um den lokalen Drogenmarkt. Es geht um Entführung, um Schutzgelderpressung, um Autodiebstahl … Längst ist nicht mehr klar, wer hinter einem Mord, einer Entführung oder einem Überfall steckt: eines der großen Kartelle, eine Jugendgang, kriminelle Trittbrettfahrer oder Killerkommandos, die von Geschäftsleuten angeheuert werden, um ihr Geschäftsviertel von missliebigem Gesindel zu säubern.

Pro Tag werden im Durchschnitt 54 Autos gestohlen, zum Teil von 15-jährigen Jungs. Banken werden bisweilen von den eigenen Bediensteten überfallen. Ein staatliches Kreditprogramm für Kleinunternehmer brach zusammen, weil Kreditnehmer, kaum dass sie das Geld in Anspruch genommen hatten, erpresst wurden – mutmaßlich von Angestellten der am Programm beteiligten Finanzinstitute. Anwälte sehen sich einen Fall dreimal an, bevor sie ihn übernehmen, selbst bei Zivilangelegenheiten. „Wenn man für einen Klienten eine Scheidung einreicht, kann man plötzlich entdecken, dass auf der Seite der Gegner ein Verwandter zum organisierten Verbrechen gehört“, erzählt Oscar Luis Acosta, der Vorsitzende der Anwaltskammer. Dann wird es gefährlich. „Es wird immer schwieriger, den Leuten zu ihrem Recht zu verhelfen. Viele von uns werden erpresst oder entführt.“ 38 Kollegen von Acosta sind in den vergangenen drei Jahren ermordet worden.

Der Friedhof San Rafael liegt gut 15 Kilometer vor der Stadt. Den Weg dorthin säumen Schrottplätze, auf denen gestohlene Autos zerlegt und in Einzelteilen verkauft werden. Mehr als umgerechnet gut hundert Euro bekomme man selten für einen abgelieferten Wagen, wissen Kenner der Szene. Ein Geschäft für kleine Fische.

Der Friedhof ist so traurig, wie ein Friedhof mitten in der Wüste nur sein kann. Graubraune trockene Erde, blattlose Gerippe von Büschen, vom Wind zerstreute Plastikblumen. Die Totengräber warten nicht, bis eine Beerdigung anberaumt wird, sie arbeiten auf Vorrat. Zehn, zwölf ausgehobene Gräber liegen immer bereit, selbst in der riesigen Kinderabteilung gleich hinter dem Feld für nicht identifizierte Leichen. „Betreten verboten“, steht auf einem Schild vor diesem Massengrab. In den Boden gesteckte Stahlrohre markieren, wo ein unbekannter Toter liegt. Manche dieser Rohre sind mit einer Plastikrose geschmückt.

Zwei Dutzend Tote täglich

Rund zwei Dutzend Menschen werden in San Rafael täglich unter die Erde gebracht. Durchschnittlich zehn von ihnen sind erschossen worden – die mit Abstand häufigste Todesursache. Trotzdem stirbt die Stadt nicht aus. Für Nachschub ist gesorgt. Täglich werden mehrere Busse und Flugzeuge voller Latinos aus allen Gegenden der USA nach El Paso gebracht und dort über die Fußgängerbrücke nach Ciudad Juárez geschickt. Manche von ihnen wurden einfach nur ohne Papiere geschnappt. Andere sind straffällig geworden und kommen direkt aus dem Gefängnis. Da stehen sie dann, mitten im Zentrum und ohne Geld. Wenn es für sie einen Job gibt, hat der meist mit kriminellen Machenschaften zu tun.

Auch an Waffen mangelt es nie. In den USA gibt es entlang der 3.500 Kilometer langen Grenze zu Mexiko 12.700 legale Waffengeschäfte. Kriminalisten schätzen, dass täglich 2.000 Schießprügel über den Río Grande geschmuggelt werden. In den vergangenen zwei Jahren haben die Grenzer gerade 386 beschlagnahmt.

Die Bundespolizei tut so, als könne sie die allgegenwärtige Kriminalität zurückdrängen. Durch die besseren Wohn- und Einkaufsviertel patrouillieren Hunderte ihrer Pickups. Auf die Ladefläche sind Gerüste geschweißt. Sie dienen als Halt für die schwarz gekleideten Männer, die dort stehen. Die tragen schusssichere Westen, Stahlhelme, Gesichtsmasken. Das Sturmgewehr haben sie immer im Anschlag, den Finger am Abzug. Nur sie kommen ungehindert durch die Straßensperren ihrer Kollegen, die den Verkehr alle drei- oder vierhundert Meter aufhalten. Plastikhütchen verengen die Fahrspuren auf eine, waffenstrotzende Männer beäugen das Innere der langsam passierenden Wagen und halten immer wieder einen an. Im Hintergrund lauert Verstärkung in einem gepanzerten Transporter.

Eine beklemmende Atmosphäre: Die meisten Läden und Arztpraxen sind geschlossen, die riesigen Parkplätze an den Shopping-Malls so gut wie leer. Außer den Bundespolizisten ist so gut wie niemand auf der Straße. Hilft das tatsächlich? „Ach was, alles Theater“, sagt eine Krankenschwester, die im Eingang einer der wenigen noch geöffneten Privatkliniken steht und raucht. „Viele von denen gehören doch selbst dazu.“

Denkt man da nicht ans Wegziehen? „Mir ist noch nichts passiert“, sagt die einsam rauchende Frau. „Ich stehe früh auf und gehe zur Arbeit und bin vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause. So machen das alle.“ Und kaum einer geht. Nach der Statistik der Stadtverwaltung wächst Ciudad Juárez weiter, wenn auch nicht mehr so schnell wie in den Jahren des Maquiladora-Booms.

Mit diesem Boom hat alles angefangen. Die Öffnung der Grenze für Waren, nicht aber für Menschen hat einen Raubtierkapitalismus entfesselt, in dem das Recht des Stärkeren gilt und der Schwächere gnadenlos ausgepresst wird. Alte Sozialstrukturen brachen zusammen, eine neue Ordnung ist entstanden. Die vielen Spielarten der Kriminalität, vom Diebstahl über Korruption bis hin zum Massaker, setzen diese Ordnung nun brutal und schrankenlos durch.

Die Unbeteiligten nehmen es fatalistisch hin. Da könne man nichts machen, sagt die Krankenschwester. Ciudad Juárez sei nun einmal eine extreme Stadt. „Wenn es heiß ist, dann ist es richtig heiß. Und wenn es kalt ist, dann ist es richtig kalt. Wenn es Wind gibt, dann ist es ein richtiger Wind und nicht nur eine Brise. Und jetzt gibt es eben Gewalt.“

Ende.

Die beiden ersten Teile erschienen am Montag, 4., und Mittwoch, 6. Juli