„Der 9. November rauscht mir durch“

EIS Felix Loch wurde achtfacher Weltmeister im Rennrodeln – und im Osten geboren, kurz bevor die Mauer fiel. Im Westen wuchs er auf. Ob es ihn bewegt, wenn er heute über die Grenze von damals fährt? „Eigentlich gar nicht“

■ Der Mann: Loch wurde knapp vier Monate vor dem Mauerfall in Thüringen geboren. 1991 zog seine Familie in den Westen, weil sein Vater, selbst Rennrodler, bayrischer Landestrainer wurde. Felix Loch lebt mit seiner Freundin in Schönau am Königssee.

■ Sein Sport: Im Rennrodeln wurde er Europameister, Gesamtweltcupsieger, dreimal Olympiasieger und achtmal Weltmeister. Mit einem Einsitzer fährt Felix Loch für den RC Berchtesgaden. 2014 gewann er bei den Olympischen Spielen in Sotschi die Goldmedaille.

GESPRÄCH THOMAS BECKER

Der Speisesaal des Vier-Sterne-Hotels Edelweiß in Berchtesgaden. Am Eingang hat sich eine kleine Schlange gebildet, weil dort, wo das Licht gerade schön fällt, der Weltmeister im Rennrodeln fotografiert wird. „Ignorieren, einfach weitergehen, ich bin keine Berühmtheit“, sagt er, und das ist nicht kokett, sondern wahr. Felix Loch wird selten erkannt.

taz: Herr Loch, wie war das, als Sie bei der Abschlussfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi die deutsche Fahne getragen haben?

Felix Loch: Das ist so besonders, das kann man gar nicht beschreiben. Da kommt alles noch mal hoch. Als ich gefragt wurde, habe ich sofort zugesagt: Die Chance, die Fahne für die eigene Mannschaft tragen zu dürfen, hat man ja nicht so oft – vor 80.000 Zuschauern im Stadion und fast Milliarden am Fernseher. Der Puls war dann schon ein bisschen höher als normal, aber nicht so hoch wie beim Wettkampf.

Haben Sie mal eine DDR-Fahne gehalten?

Nein, nie.

Und Ihr Vater? Hat er Pokale aus seiner DDR-Zeit aufbewahrt, Medaillen vielleicht, Trainingsanzüge?

Nicht, dass ich wüsste. Was er noch hat, sind die Sachen von Olympia 1984 in Sarajevo, wo er als Athlet war. Aber Urkunden oder Pokale? Gar nix. Da komme ich ein bisschen nach ihm. Meine Olympiamedaillen sind zwar greifbar, aber nicht sichtbar, liegen aufgeräumt im Schrank in ihren Schachteln. Die einzigen, die bei mir zu Hause stehen, sind drei Gesamtweltcup-Pokale, davon dienen zwei im Regal als Buchhalter, und einer steht am Fenster.

Sie wurden in Sonneberg geboren. Ist Thüringen für Sie Heimat?

Eigentlich nicht. Opa und Oma beiderseits wohnen noch in Thüringen, die einen in Sonneberg, die anderen in Friedrichsroda. Ich bin hier am Königssee aufgewachsen. Ich war ja noch ein Kleinkind von zweieinhalb Jahren, als wir hier runter gezogen sind.

Als die Mauer fiel, waren Sie dreieinhalb Monate. Wann erfuhren Sie zum ersten Mal von ihr?

Ich weiß gar nicht mehr, wann wir das in der Schule gelernt haben. Ich kann mich besser daran erinnern, dass man bei uns an der Grenze, also der zwischen Deutschland und Österreich, irgendwann nicht mehr den Ausweis zeigen musste, wenn man nach Salzburg wollte. Als ich Kind war, sind wir natürlich immer zu Oma und Opa. Das war schön, in den Ferien, für jedes Kind ist es doch das Höchste, zu den Großeltern zu fahren. Aber zum ersten Mal bewusst nach Oberhof zum Rodeln? Da war ich vielleicht sieben oder acht – also sozusagen sieben, acht Jahre danach. Da war praktisch nichts mehr übrig von der DDR. Einmal, als ich mit meinem Dad zu Besuch in Sonneberg war, eben direkt an der innerdeutschen Grenze, wurde ein alter Grenzturm abgerissen. Das war alles, was da noch stand.

Sie haben Ihren Vater sicher gefragt, warum das passiert.

Klar. Aber in dem Alter realisiert man das ja nicht.

Haben Ihre Eltern nicht von der DDR erzählt?

Es hieß halt, dass das etwas komplett anderes war. Dass man das auch nur schwer erklären könne. Meine Eltern sind ja beide früher gerodelt, mein Vater sogar bis Mitte der Achtziger. Er sagte immer, dass er als Sportler sehr, sehr privilegiert war. Er sagte: „Wir können uns glücklich schätzen, wie wir leben.“ Mein Vater ist überall hingekommen, raus aus der DDR, rein in die Welt, bis nach Amerika. Die ganze Familie hat davon profitiert, dass er erfolgreicher Sportler war. Meine Großeltern durften dadurch schon raus, auch mal zum Königssee. Sie hatten ein bisschen mehr als andere.

Hat Ihr Vater überlegt, in den Westen zu fliehen?

Da bin ich mir nicht sicher, das müssen Sie ihn selbst fragen. Ich glaube, uns ging es relativ gut, weil wir in der DDR mehr oder weniger alles hatten und mein Vater nach seiner Karriere den Trainerschein in Leipzig machen konnte. Das Ungewisse nach dem Mauerfall war einfach die Frage: Was passiert jetzt? Was wird aus den Trainerstellen? Er bekam dann 1991, recht bald, das Angebot, als bayerischer Landestrainer am Königssee zu arbeiten. Für ihn und uns war das ein Schnitt: Man packt alles zusammen und fährt irgendwohin.

Das heißt, Ihre Familie hat am 9. November nicht gejubelt?

Mir wurde erzählt, dass wir daheim waren und die Stimmung wohl komisch war. Mein Vater sagte später, dass die politische Situation einfach reif war, und wir uns deswegen neu orientieren mussten.

Fiel Ihren Eltern der Neuanfang in Bayern schwer?

Ich glaube nicht. Man kannte sich ja seit vielen Jahre vom Rodeln. Aber es war sicher so, dass sich mein Vater erstmal beweisen musste.

Wahrscheinlich war er einer der ersten Trainer, die aus der DDR in den Westen wechselten.

Bestimmt war er einer der ersten. Bei uns am Stützpunkt ist er bis heute einer der wenigen aus der DDR. Unter vielen Bayern.

Gibt es umgekehrt denn Bayern, die nach Thüringen wechseln?

Nein. Ich könnte das auch nicht. Mir würde etwas fehlen: die Berge. Wenn man hier aufgewachsen ist, in der Früh aufsteht und auf den Watzmann schaut, das ist gewaltig. Wie im Bilderbuch. Ich könnte auch in Oberhof trainieren, weil man sich als Mitglied von A- und B-Kader aussuchen kann, an welchem Stützpunkt man trainieren will. Aber ich kann es mir nirgends anders vorstellen als hier.

Sehen Ihre Kollegen das genauso?

Gerade ist ein Rodler aus Thüringen nach Berchtesgaden gezogen. Aber er ist vor allem hergekommen, weil seine Freundin hier wohnt.

Und, wie geht’s ihm?

Es ist ungewohnt für ihn. Aber er trainiert ganz normal bei uns mit. Im Prinzip sind wir alle Einzelsportler. Wir sind keine Fußballmannschaft, in der elf Leute das gleiche Ziel haben: zu gewinnen. Solange es da mit fairen Mitteln zugeht und alle die gleichen Chancen haben, ist eine gesunde Konkurrenz unter den Stützpunkten gut. Sie hat uns in den letzten Jahren vorangebracht. Unschön wird es, wenn es Unterstellungen gibt: Wir würden betrügen. Bevorteilt. Dann wird’s hässlich.

Wie ist das dann, wenn man mit einer solchen Mannschaft zu Weltmeisterschaften oder zu Olympischen Spielen fährt?

Das ist schräg. Man hockt zwar zusammen im Hotel …

aber die Bayern an dem einen Tisch und die Thüringer am anderen?

Ja. Das war eine Zeit lang so. Und es gab Eiszeiten, in denen man sich angeschwiegen hätte, hätte man sich auf ein Bier zusammengesetzt. Oder es wäre irgendwann ausgeartet. Aber ich habe das Gefühl, dass wir mittlerweile auf einem ganz guten Weg sind, respektvoller miteinander umzugehen. Was nicht gleich heißt, dass man sich mit der Konkurrenz auf ein Bier trifft.

Gab es solche Kämpfe auch nach der Wende zwischen ehemaligen DDR- und BRD-Athleten?

Nein, das weiß ich vom Hackl Schorsch. Als Ost- und Westmannschaft damals zusammengelegt wurden, gab es zwar zunächst Ausscheidungsrennen und die Hälfte jeder Mannschaft flog raus. Die meiste Zeit muss das aber wohl ganz ruhig verlaufen sein.

Was macht denn der Hackl Schorsch, der dreimal Olympiasieger wurde, heute im deutschen Team?

Der Schorsch hat hier eine Stelle bei der Bundeswehr, eine Trainertätigkeit in der Rennrodelnationalmannschaft. Am Stützpunkt Berchtesgaden ist er dafür verantwortlich, dass bei den A- und B-Kaderathleten alle ordentliche Schlitten unter ihren Hintern haben.

Um die der Thüringer kümmert er sich nicht?

Nein, das würde schon allein aus Zeitgründen nicht funktionieren. Jedes Team hat seine Bezugsperson, das ganze Jahr über.

Nicht leicht für Ihren Vater, der als Bundestrainer beide Gruppen betreut, Ost und West.

Schwierig, ja. Er saß schon ganz schön zwischen den Stühlen, wurde auch in Frage gestellt.

Von den Thüringern?

Natürlich. Als sein Vorgänger 2008 als Bundestrainer aufhörte, ist die Stelle zunächst dessen Co-Trainer angeboten worden. Der aber wollte nicht, lehnte ab und war schließlich derjenige, der meinen Vater für die Stelle vorschlug. Die beiden kannten sich schon lange.

Eine zerrissene Mannschaft, zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung. 2014, zum Olympiasieg in Sotschi, haben Ihnen die Thüringer aber schon gratuliert, oder?

Manche schon.

Sie werden Olympiasieger, Konkurrenten aus aller Welt gratulieren, aber nur manche der Kameraden aus Oberhof?

Ja. Aber sowas muss jeder selbst wissen.

Vergeht Ihnen da nicht die Lust, überhaupt noch zu Wettkämpfen zu fahren?

Nein, die vergeht mir nicht, trotz des Ärgers. Die Lust auf Wettkämpfe vergeht dir nicht so schnell, wenn Sport dein Leben ist.

Also akzeptiert man irgendwann, dass die Missgunst einen dauernd begleitet?

Ja. Das ist schade, das hat immer so einen faden Beigeschmack. Aber das Klima verändert sich wie gesagt momentan. Ich bin überzeugt, dass es jetzt besser wird. Auch, weil der ein oder andere aufgehört hat. Die Leute, die mittlerweile mit der Mannschaft zusammenarbeiten, schätze ich als sehr vernünftig ein. Die schalten auch ihren Kopf ein, wissen, dass im Sport Verlieren halt dazugehört und man die Leistung eines anderen anerkennen muss, auch wenn ich nicht weiß, warum der plötzlich so schnell ist. Wenn ich langsamer bin, ist es natürlich einfacher zu sagen: Der kämpft nicht fair.

Klingt bei allem Optimismus nicht so, als würden Sie den 9. November mit Ihren Kollegen feiern. Ist das ein besonderer Tag für Sie?

Nein. Als Sportler lebt man nicht nach Wochentagen. Da passiert es schon mal, dass man sich an einem trainingsfreien Sonntag ins Auto setzt und noch etwas einkaufen will. Viele stehen nach zwanzig Jahren Leistungssport erstmal etwas ratlos da: Hilfe, keiner plant für mich! Bei uns gibt’s keine Feiertage, außer den 24. und 25. Dezember. Insofern rauscht mir der 9. November einfach so durch. Wo ich da bin? Wahrscheinlich wieder irgendwo unterwegs. Der Mauerfall fällt für mich aus.

Bewegt es Sie stattdessen, wenn Sie in Sonneberg über die ehemalige Grenze fahren?

Eigentlich gar nicht. Jetzt fährt man ja über die neue Autobahn. Das einzige, das einen noch erinnert, sind die Schilder: Auf Wiedersehen in Bayern, willkommen in Thüringen. Gedanken mache ich mir da keine.

Woran denken Sie dann?

An Rindsrouladen und Vanillepudding.

An Rindsrouladen?

So, wie sie meine Oma macht, so gibt’s die nirgends. Nicht in Berchtesgaden und nicht bei meiner Freundin. Immer, wenn ich zu Besuch bin, lasse ich mir so viele eingefrorene Rouladen in Tupperdosen einpacken, dass sie auch noch das nächste halbe Jahr reichen.

Und wo bleibt der Vanillepudding?

Der steckt im Kuchen. Den kann auch nur die Oma. Die macht den aus normalem Mürbeteig, füllt ihn aber mit ganz viel Vanillepudding und verteilt dann noch Streusel drüber. Puddingkuchen heißt der, und ein Stück von dem langt, dass ich selig werd’.

Thomas Becker, 49, ist freier Journalist in München. In seiner Heimat Saarbrücken fuhr er als Kind oft mit dem Holzschlitten