Betr.: Tagebucheintrag zum Mauerfall von Walter Kempowski

8. November 1989

Nartum. Heute kamen 11.000 Menschen aus der DDR, seit Sonnabend 50.000. Das hat was von Hysterie an sich. Die Gesichter […] ähneln einander, junge Leute zwischen 18 und 32, Jeans, Männer mit Oberlippenbärten, Frauen mit Kind auf der Hüfte. Sie glauben nicht an die Versprechungen des SED-Staates. […] Heute sind sie alle zurückgetreten und zum Teil wieder vorgetreten. […] Frau Bohley wirkt schüchtern und so, als ob sie gerade geweint hätte, tranceartig spricht sie. Merkwürdig. Keinen einzigen Namen kennt man.

9. November 1989

Nartum. An den Grenzübergängen stauen sich Tausende von DDR-Leuten. […] Die Mauer könnte also fallen. […] 1 Uhr: 3.000 bis 4.000 Menschen stündlich. […] Leute sind nicht mehr zu zählen. 2.21 Uhr: Leipzig. Alles dunkel. „Die Meldung hat die Stadt noch nicht erreicht.“ […] Sobald es geht, fahre ich rüber. Möglichst schon morgen.

Walter Kempowski, 1929–2007, war ein deutscher Schriftsteller. In seinem Projekt „Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch“ collagierte er Tagebücher, Briefe und andere Alltagsdokumente Aus: Walter Kempowski, „Alkor. Tagebuch 1989“, Albrecht Knaus Verlag, München 2001