Der alte Herrscher Konfuzius

INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN Henry Kissinger legt sein Insiderwissen über China von Mao bis heute dar

Wie Deutschland mit Helmut Schmidt seinen Elderstatesman hat, der sich mit seiner Expertise in regelmäßigen Abständen zu aktuellen China-Fragen äußert, haben die Vereinigten Staaten mit Henry Kissinger ihren China-Spezialisten. Der ehemalige US-Sicherheitsberater und Außenminister gilt als der Wegbereiter bei der Wiederaufnahme der Kontakte der westlichen Welt zu dem damals noch maoistischen China. Nun hat der heute 88-jährige Kissinger seine Memoiren auf mehr als 600 Seiten zusammengetragen. Der Titel lautet schlicht: China.

Vor 40 Jahren hat Nixon seinen Vertrauten Kissinger in geheimer Mission erstmals nach Peking entsandt, um ein Treffen zwischen dem US-Präsidenten und Mao Tse-tung einzufädeln und damit die Beziehungen zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten wiederaufzunehmen. Damals noch kein leichtes Unterfangen: Denn der Westen verteufelte China weitgehend und sah in Mao einen wirren Fanatiker. Ein China-Besuch kam einem politischen Selbstmord gleich. Nixon scheiterte bekanntlich nicht an China, sondern an Watergate.

Wie historisch diese Begegnung 1972 dann war, zeigt sich daran, dass mit der US-chinesischen Annäherung nach fast 25-jähriger Abstinenz Kissinger nicht nur einem schlummernden Riesen ermöglichte, wieder die weltpolitische Bühne zu betreten und damit auch innerhalb Chinas die Öffnungspolitik einsetzte. Auch die ersten Schritte zur Beendigung des Kalten Krieges setzte mit Nixons Besuch in Peking ein. Denn tatsächlich fürchtete Moskau eine allzu große Nähe zwischen dem US-Präsidenten und Mao und setzte daraufhin seinerseits auf Entspannung mit Washington.

Diese Deutung der Geschichte ist zumindest im deutschsprachigen Raum bislang zu kurz gekommen. Schon allein deshalb lohnt sich die Lektüre. Doch Kissinger geht in dem Buch über eine ausführliche Schilderung des Treffens hinaus. Mehr als 50-mal hat der US-Politiker die Volksrepublik seit diesem historischen Treffen besucht und ist – noch mehr als Helmut Schmidt – einer der wenigen westlichen Politiker, die von Mao über Deng Xiaoping bis Jiang Zemin und Hu Jintao sämtliche Machthaber Chinas persönlich kennengelernt haben.

Kissingers Interesse am bevölkerungsreichsten Land der Welt hat ihn zugleich angespornt, sich auch intensiv mit Chinas jüngerer Geschichte zu beschäftigen. Sein Werk liefert so eine differenzierte Analyse des heutigen China. Seine Erkenntnis: Der offiziell vom Revolutionär Mao so bekämpfte Konfuzianismus mit seiner starren und hierarchischen Gesellschaftsordnung ist all die Jahrzehnte fester Bestandteil des chinesischen politischen Systems geblieben und erklärt, warum die heutige kommunistische Führung stärker denn je von diesen traditionellen Lehren geprägt ist als etwa von Marx.

Kissingers Sympathie für das autoritäre China bleibt denn auch unverkennbar – und offenbart auch einiges über Kissinger selbst. Denn so pragmatisch er sich bei der Entspannungspolitik gegenüber der damaligen Volksrepublik zeigte, seine Rolle als Außen- und Sicherheitsberater der US-Regierung im Vietnamkrieg, der in seiner Amtszeit einen blutigen Höhepunkt erreichte und auch bei den Verhandlungen mit China einer der wesentlichen Streitpunkte darstellte, bleiben weitgehend unreflektiert.

„Dass China und die USA zwangsläufig einen Weg zueinander finden mussten, war ein Erfordernis der Zeit“, gibt Kissinger zu. Dass es jedoch mit wenigen Umwegen geschah, sei den handelnden Personen zu verdanken, weiß er dann doch um seinen Verdienst. FELIX LEE

Henry Kissinger: „China. Zwischen Tradition und Herausforderung“. Bertelsmann Verlag, München 2011, 608 Seiten, 26 Euro