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: Wie viel Leid verträgt ein Kinderbuch? Zwei Bücher, die jungen Lesern viel zumuten

Nun ist der Zaun um Heiligendamm also wieder weg. Wie von Zauberhand aufgelöst, während anderswo die Grenzbefestigungen weiter wachsen. An die Mauer um Gaza und das Westjordanland etwa hat man sich fast schon gewöhnt – ganz selbstverständlich bringen Reisende ihre digitalen Gruselshots aus dem Heiligen Land mit nach Hause. Mauertourismus für jene, die überallhin können. Und wie ist es für die anderen? Man ahnt es, aber wirklich nachempfinden kann man es wohl nicht. Das gilt natürlich auch für die Kinder. Sie bleiben einem fremd, trotz Mitgefühl für die da drüben. Und fremd ist auch ein Kinderbuch, das erzählt, wie das Leben selbst für Kinder schon nur aus einem Gedanken zu bestehen scheint: wie man rüberkommt.

Ann Jaramillo ist eine amerikanische Lehrerin, die in eine mexikanischstämmige Familie eingeheiratet hat und deren Schüler vorwiegend aus Mexiko kommen. Sie kennt unzählige Schicksale von Menschen, die „La Linea“, die Grenze zwischen Mexiko und den USA, überquert haben. Aber sie ist keine von ihnen, ihre Geschichte hat nichts Autobiografisches. Jaramillo erzählt von der Flucht zweier Kinder: wie Miguel und Elena sich aufmachen, um über die von Grenzpolizei und militanter Bürgerwehr bewachte Grenze zu gelangen. Es ist eine fiktive Geschichte, aber das Interessante ist, dass es eine wahre Geschichte sein könnte. Welche Tricks Miguel und Elena anwenden und wie sie selber ausgetrickst werden, wie lebensgefährlich das Aufspringen auf den Zug ist und das Überqueren der Wüste, wie sie eine geflohene Frau mit ihrem Kind tot auffinden – detailgenau erfährt man, was die Kinder erleben auf ihrem Weg zu den Eltern. Sieben Jahre ist es her, seit der Vater sich aufgemacht hat, um in Kalifornien eine einfache Arbeit zu finden. Als er seinen Sohn endlich wiedersieht, sind sie einander fremd geworden.

Literarisch betrachtet, ist „La Linea“ ein schlichtes Buch. Ohne Rückblenden, tiefer führende innere Monologe, über weite Strecken wie ein geradliniges Abenteuer gestrickt. Das Fiktive hätte mehr Form gebraucht. Trotzdem folgt man den Jugendlichen auf den Schritt. Und es rührt einen an, wie die Kinder zusammenhalten, wie sie sich gegenseitig stützen und durchs Leben tragen. Wenig romanhaft, aber glaubwürdig erzählt Jaramillo von den Konflikten zwischen den Geschwistern und den Enttäuschungen, die sie mit ihren Eltern erleben. Wobei das Ende ein ausgesprochen glückliches ist. Nicht nur die Flüchtlinge brauchen, auch der Leser braucht Hoffnung. Ein schaler Beigeschmack bleibt dennoch und das Gefühl, dass dieses Happy End mit Collegeabschluss und eigenem Ökohof ziemlich geschönt ist.

Aber wie viel Perspektive braucht ein Kinderbuch? Und wie viel Leid verträgt es? Alles Leid der Welt, würde der Brasilianer Júlio Emílio Braz wohl sagen. Er erzählt die Geschichte der kleinen Rolinha, die im Alter von sechs Jahren von ihrer Mutter vor einem Kaufhaus ausgesetzt wird. Rolinha schließt sich einer Mädchenbande an und lebt fortan auf der Straße. Braz begleitet das Mädchen bis in die Pubertät hinein und erzählt ganz aus dessen Perspektive. Die Angst vor der Brutalität, die ihr auf den Straßen São Paulos entgegenschlägt, ihr verzweifelter Wille, zu überleben, ihre Sprachlosigkeit angesichts einer Mutter, die ihr Kind einfach verlassen hat – das alles ist auch für den Leser kaum zu ertragen. Denn Braz erspart einem nichts. Anders als Jaramillo, die eher auf den Plot setzt, dringt er tief in die gequälte Seele dieses Mädchens ein. Seine Sprache ist so komprimiert, dass der Druck kaum auszuhalten ist. Braz mutet seinen jungen Lesern viel zu. Was auch eine Art ist, sie ernst zu nehmen. ANGELIKA OHLAND

Ann Jaramillo: „La Linea“. Deutsch von Anja Malich. Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2007, 189 S., 12 Euro; Júlio Emílio Braz: „Kinder im Dunkeln“. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Bettina Neumann. Nord Süd Verlag, Zürich 2007, 74 Seiten, 12,80 Euro