Tolstoi, Zar und Samowar

EXILFILM Die russische Oktoberrevolution 1917 trieb zahllose Kulturschaffende ins Exil. Noch bis zum 20. November zeigt das Zeughauskino ihre Filme

Das „Russische“ in den Filmen zeigt sich auf verschiedenen Ebenen

VON CAROLIN WEIDNER

Russland 1917: Das Zarenreich bricht zusammen, nach der Oktoberrevolution übernehmen die Bolschewiki die Macht. Das Chaos im Land treibt viele Russen ins Ausland, sie hoffen auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Unter ihnen auch Regisseure, Kameraleute, Schauspieler und andere Filmleute, die von da an in Paris oder Berlin arbeiten.

Ihr Werk zeigt nun das Zeughauskino (12.–20. 11.) unter dem Titel „Zwischen Berlin und Paris – Russisches Filmexil im europäischen Kino der 20er Jahre“: sieben Stummfilme, am Flügel live begleitet. „Das Europa der 20er Jahre hat sich stark für Traditionen und Bräuche aus dem Osten interessiert“, erklärt die Filmhistorikerin Julia Kuniß, die die Reihe zusammengestellt hat. „Die Filmemacher, die von Russland nach Europa flohen, konnte all dies natürlich meisterlich inszenieren. Es gab eine große Sehnsucht, derlei auf der Leinwand zu sehen.“

Das „Russische“ ist dabei in allen Filmen präsent, auch wenn es sich auf unterschiedlichen Ebenen bemerkbar macht. Denn neben Großproduktionen von Berliner bzw. Pariser Studios berücksichtigt Kuniß’ Filmreihe auch Filme, die nicht von Russen stammen, aber russische literarische Themen und damit diese „Sehnsucht“ verarbeiten. So sind im Programm auch zwei Filme der Brüder Conrad und Robert Wiene („Das Cabinet des Dr. Caligari“) vertreten. Vor allem die Vorführung von Conrad Wienes „Die Macht der Finsternis“ (D 1923) ist dabei eine Besonderheit, galt der Film doch als verschollen – 2003 fand überraschend der Filmwissenschaftler Hiroshi Komatsu im Theatermuseum von Tokio noch eine Kopie.

„Die Macht der Finsternis“, basierend auf Leo Tolstois gleichnamigen Drama von 1886, erzählt die Geschichte von Nikita, einem umtriebigen Knecht, der sich nicht nur an einer Frau des Dorfes versucht, um seinen gesellschaftlichen Aufstieg voranzutreiben. Und der sich dabei kolossal verzettelt. Das Drehbuch zu Conrad Wienes Adaption stammt von Robert Wiene, dessen Film „Raskolnikow“ (D 1923) ebenfalls Teil der Reihe ist. „Raskolnikow“ orientiert sich an den Erzählungen Dostojewskis. Und noch eine weitere Gemeinsamkeit verbindet die Produktionen der Gebrüder Wiene: Beide Filme sind mit Schauspielern des Moskauer Künstlertheaters besetzt, das unter europäischen Kinogängern damals sehr beliebt war.

Ebenfalls im Programm ist die opulente Serie „La maison du mystère / Das geheimnisvolle Haus“ (F 1923) von Alexander Wolkow, eine der ersten Serien der Filmgeschichte: zehn Teile, die eine Gesamtspielzeit von knapp acht Stunden ergeben. Wolkow nahm den Erfolgsroman des Franzosen Jules Mary zur Vorlage und bebildert im Fortlauf der Serie Leid und Wirren, die sich aus einem amourösen Dreieck ergeben.

Eine deutsch-französische Koproduktion (und Großproduktion) ist „Michel Strogoff / Der Kurier des Zaren“ (1926) von Victor Tourjanski nach Jules Verne: Der Gardeoffizier Michel Strogoff versucht sich im Alleingang bis nach Irkutsk durchzuschlagen, um dem Großfürsten eine bedeutsame Nachricht zu überbringen. Doch Strogoff wird unterwegs von einer Dame gestoppt, die ihn an die Tataren ausliefert. Der Film ist ein Stilmix aus russischem Folklorismus, deutschem Expressionismus und russischem Montagefilm (manche meinen auch Western- und Slapstick-Elemente zu erkennen), „der fast alles Dagewesene überbietet“ – so urteilte jedenfalls Willy Haas 1926 im „Film-Kurier“. „Michel Strogoff“ ist aber auch ein Film, der insbesondere auf die Darstellung russischer Bräuche und Eigenheiten Wert legte. Bezeichnend eine Szene, in der ein alter Stiefel als Blasebalg herhalten muss, um die Glut eines Samowars zu erhitzen.

■ Zwischen Berlin und Paris, Russisches Filmexil im europäischen Kino der 20er Jahre: Zeughauskino, 12.–20. November, http://berlin-paris.interkultura.de