Der Traum von der eigenen Ruine

Das soziokulturelle Projekt RAW-Tempel bangt seit Jahren um seine Zukunft. Jetzt soll das Gelände, die größte Industriebrache innerhalb des S-Bahn-Rings, endgültig verkauft werden. Doch die Betreiber geben nicht auf und entwickeln eigene Visionen für einen Investor. Der Bezirk steht hinter ihnen

Drei Projekte setzen sich auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerkes für eine nachhaltige Stadtentwicklung ein: die Vereine RAW-Tempel, die Workstation Ideenwerkstatt Berlin und der Ideenaufruf. Derzeitige Nutzer und Hauptmieter sind der RAW-Tempel und die Five-o GmbH, die seit Jahren auf dem Areal Ateliers, Werkstätten und ein umfangreiches Kultur- und Sportprogramm betreiben. Damit das Angebot auch nach dem Verkauf des Geländes Bestand hat, gründeten die beiden Betreiber im Herbst 2006 den Verein „Revaler Fünfeck“, der sich gemeinsam mit dem „Ideenaufruf“, einer Initiative des Vereins workstation-Ideenwerkstatt Berlin zusammen mit Kiez-Bewohnern, Fachleuten für das Modellprojekt einsetzt. KUL

VON SVEN KULKA

In den alten Industriehallen riecht es nach Öl. Die Stahlträger sind verrostet und die wenigen Fenster, die es noch gibt, kaputt. Es gibt ein Verlies voll Wasser und einen Bunker ohne Tageslicht. Für Ole Hoffmann, Olaf Schenckenberg und Tobias Freitag ist es der ideale Platz, ihre Visionen umzusetzen: Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks „Franz Stenzer“ in der Revaler Straße sollen ein Hostel, eine Gewerbefläche, Spiel- und Freiräume entstehen und die Ateliers, Werkstätten sowie denkmalgeschützten Gebäude erhalten bleiben. Die drei jungen Männer von der Initiative „Revaler Fünfeck“ brauchen nur noch einen Investor für ihre Pläne.

Der Ort ihrer Träume ist die größte Industriebrache innerhalb des S-Bahn-Rings, und sie steht zum Verkauf. Das Gelände an der Revaler Straße in Friedrichshain, das längs der Gleise von der Warschauer- bis zur Modersonbrücke verläuft, misst 78.000 Quadratmeter. Die Vermarktungsgesellschaft Vivico, die im Auftrag der Deutschen Bahn das Gelände veräußert, macht Druck und will noch in diesem Jahr einen Investor verkünden. „Der Bund wittert das große Geschäft und könnte all das kaputt machen, was wir über Jahre hier aufgebaut haben“, befürchtet Ole.

Die drei Jungs gehen durch das Werkstor. Wie damals die Mitarbeiter der Reichsbahn, die hier für die Mobilität der Menschen und den reibungslosen Transport von Kohle, Stahl und Holz sorgten. Ole, Olaf und Tobias haben heute allerdings einen anderen Auftrag zu erledigen: Sie wollen das Revaler Viereck noch einmal begehen – ihrer Vision wegen. Dafür haben sie schon im Herbst das „Revaler Fünfeck e. V.“ gegründet, als Zusammenschluss der beiden Hauptmieter RAW-Tempel und der Five-o GmbH. Und für ihre Vision richten sich die Templer derzeit mit einem Ideenaufruf und das Bezirksamt an die Öffentlichkeit. Sie soll mitentscheiden, was aus dem Grundstück wird.

Schon 2003 suchte die Vivico, die das Bundesvermögen vermarktet, einen Investor. Fand aber keinen und das wohl nicht ohne Grund. Denn bis auf den kleinen Bereich des Areals, den die Five-o GmbH und der Verein RAW-Tempel betreiben, ist hier alles alt, grau und runtergekommen. Das einzig Bunte sind die Graffiti an den maroden Mauern. Ganz anders sieht es in den Bereichen aus, die die Zwischenmieter bewirtschaften.

Olaf, den hier jeder nur den Zirkusdirektor nennt, geht voran. Vorbei am Café Küste. Leise Musik dringt durch die offen stehende Tür des Cafés. Seit sechs Jahren leitet Olaf den Zirkus Zack, ein Musterprojekt des RAW-Tempel: eine offene, gemeinnützige Organisation von Bürgern, die 66 soziokulturellen Projektpartnern ein Dach über dem Kopf bietet. Einen Mietvertrag hat der RAW-Tempel allerdings nur für eines der Gebäude. In den anderen drei Gebäuden ist der Verein nur geduldet. „Keine gute Ausgangslage für langfristige Investitionen“, sagt Olaf. Wenn sie langfristige Nutzungsverträge in der Hand hätten, würden die Templer auch die Häuser auf der Industriebrache instandsetzen, sagt der 38-jährige, der das Gelände des RAW so gut kennt wie kein anderer.

So verlassen und unbewohnt die Häuser von außen erscheinen, so lebendig geht es in ihrem Innern zu. Hier musizieren Kinder, Jugendliche und Erwachsene und bauen Instrumente. Auch der „Verein zur Überwindung der Schwerkraft“,ist hier beheimatet. Es gibt Yoga, Tango, Karate und regelmäßig Kultur- und Politikveranstaltungen auf der Kleinkunstbühne.

Unterstützung für ihre Zukunftsvision bekommen Olaf und die anderen vom Revaler Fünfeck von Franz Schulz, dem Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg: In Frage komme nur ein Investor, sagt Schulz, „der die Betreiber mit ins Boot nimmt“. Es sei das wichtigste Stadtentwicklungsprojekt, sagt der Grünen-Politiker. „Es geht um die Arbeitsplätze und das Sport- und Kulturangebot, das die Five-o GmbH und der RAW-Tempel geschaffen haben“, betont Schulz. Ein Konsumtempel ausschließlich mit Einzelhandelsgeschäften sei mit dem Bezirk nicht zu machen. Aus diesem Grunde beschlossen im Januar die Politiker im Stadtplanungsausschuss des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg die Aussetzung des Bebauungsplanverfahrens für das Revaler Gelände.

Jetzt ist es an der Vivico, einen geeigneten Investor zu finden. „Es ist noch nichts entschieden“, sagt Markus Diekow, Sprecher in der Vivico-Zentrale in Frankfurt. Der Vivico sei es wichtig, „dass sie einen Investor findet, der alle Parteien mit seinem Konzept überzeugt“, so Diekow. An die Wand einer Baracke hat ein Mann eine Leiter gelehnt. Auf dem Boden steht ein Eimer mit Farbe. Immer wieder tunkt der Mann einen Pinsel in den Eimer. „Er leistet im Tempel ‚Arbeit statt Strafe‘ “, sagt Olaf, während der Mann gleichmäßig Strich für Strich die Wand weiß streicht. Andere helfen dabei, Bühnenelemente auf- und abzubauen oder halten die Gebäude in Schuss. 250 Teilnehmer nutzen jährlich das Angebot. Zudem arbeiten jedes Jahr mehr als 100 ALG-II-Empfänger auf dem Gelände des Vereins. „Besser kann Integration nicht funktionieren“, sagt Olaf.

Dort, wo jahrzehntelang junge Männer im Ausbildungswerk der Deutschen Reichsbahn lernten, wie man Achsen, Räder und Dampfkessel repariert, befindet sich heute das Cassiopeia. Im Vorraum stehen zwei ausgesessene Sofas und eine Theke, die die Jungs irgendwo erstanden haben. Ole lehnt mit einer Zigarette in der Hand an einer Wand und erzählt, wie es war, als sie den Club eröffneten. Wie sie Wasserleitungen legten, immer dann, wenn sie ein paar Euro eingenommen hatten. „Es gab kein richtiges Dach, kein Strom, nichts“, so der 28-Jährige. Auch nicht auf der zweiten Ebene, wo sich die Lehrlinge früher das Maschinenöl vom Leib wuschen.

Ole schließt eine Eisentür, auf und die drei Jungs betreten den riesigen ungenutzten Bereich des RAW-Geländes. Verrostete Gleise, Baracken und gigantische Industriehallen gibt es hier. Es riecht nach Öl, und durch die kaputten Scheiben pfeift der Wind. Wo früher 2.500 Bahnmitarbeiter die Kühlwagen fit machten, sind heute nichts weiter geblieben als leere Hallen. Die riesigen Industriebauten, so hat man das Gefühl, halten nur noch einige verrostete Stahlträger und alte Ziegelsteine zusammen. Sondermüll habe man hier auch mal gelagert, sagt Ole. Aber genau wisse man das nicht, und sehen könne man davon auch nichts mehr.

Die Visionäre gehen von einer Halle in die nächste. Plötzlich scheppert es. Es hört sich an, als hätte jemand einen alten Kochtopf fallen lassen. „Das ist sicher ein Sprayer, der seine Dose weggeworfen hat und jetzt irgendwo in diesem Labyrinth verschwindet“, sagt Ole gelassen. Eigentlich soll ein Wellblechzaun nicht willkommene Besucher vom Gelände der Bundesbahn fernhalten. Doch die Gruselbrache ist groß. Zu groß, um sie komplett vor ungebetenen Gästen abzuschirmen.

Auf ihrem Weg über das Gelände kommen die drei jungen Männer an einer Halle vorbei. Licht scheint durch die Fenster der Skatehalle. 1.600 Quadratmeter groß. Die Decke schwebt in 12 Meter Höhe. Jugendliche rauschen auf ihren Brettern über den Streetparcours durch die Halle, die der 1. Berliner Skateverein im März 2005 eröffnete. „Eine vernünftige Skatehalle gab es in Berlin nicht“, sagt Ole. „Und wo sollten die Kinder und Jugendlichen fahren, wenn es draußen regnete, kalt war oder das Skateboarden auf öffentlichen Plätzen schlichtweg illegal ist?“

Mitten auf dem Gelände steht ein kurioses Gebäude. Es ist grau und rund und hat ein strukturiertes Steindach, verschiedene Risse, Leisten, Löcher, Kunstgriffe und Ringe. Im Zweiten Weltkrieg flüchteten die Bahnmitarbeiter hierher, wenn die Alliierten ihre Bomben abwarfen. Es ist der 18,70 Meter hohe Bunker. Heute ist er der bekannteste Kletterturm in Berlin. Mehr als 10.000 Kletterer besuchten den Kegel im vergangen Jahr.

Etwas weiter betreten die drei eine Art Saal. Alte DDR-Tapete hängt von den Wänden. Bühnenelemente, Stühle, Vorhänge liegen herum. Wer es zulässt, kann die Atmosphäre spüren, die in den alten Klamotten steckt: Clowns auf der Bühne, lachendes Publikum, Stimmen, die Gedichte vortragen, Menschen in Kostümen, die Sketche aufführen. Ja, so muss es hier gewesen sein – im werkseigenen Theater.

Mittlerweile sitzen die drei Männer im Biergarten. Auf dem Tisch liegt ihre Vision. Beach, Volleyball, Indoorspielplatz für Familien, eine große Parkanlage sollen entstehen und „die Vision des Revaler Fünfecks weitergehen“, sagt Tobias. Die Jungs packen ihre Vision in ihre Taschen und gehen durch das Werkstor des RAW Richtung S-Bahn. „Wir werden kämpfen“, sagen sie, und Ole klopft mit der Hand gegen seine Tasche. „Für unsere Vision. Damit das RAW zukünftig alles ist. Nur eines nicht mehr: alt, verrostet und unbrauchbar.