Zauberformeln des Guten

WIRTSCHAFT Utopie gegen Wirtschaftswachstum: das neue Buch der Umweltphilosophin Barbara Muraca

VON DETLEV CLAUSSEN

Gut leben“ – ein Titel, der viel verspricht. In vielen Gesellschaften macht man sich Gedanken, nachdem die Euphorie der Zeitenwende um 1990 verflogen ist, wie es denn weitergehen soll. Dem Versprechen, durch wirtschaftliches Wachstum Wohlstand für alle zu erzeugen, traut kaum noch einer.

Umso neugieriger wird man, wenn im Untertitel eines handlich schmalen Bandes „Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ angekündigt wird. Schließlich kann kaum jemand verleugnen, wie stark durch den ökonomischen Wachstumszwang in der Weltwirtschaft der Druck auf das Privatleben angestiegen ist.

Während in den westlichen Gesellschaften mit allerhand staatlichen Maßnahmen oder Unterlassungen („Deregulierung“) Wachstum mit wenig Erfolg, aber großen Verlusten an Lebensqualität stimuliert werden soll, stolpern die Länder mit dem spektakulärsten Zuwachsraten der letzten beiden Jahrzehnte – Brasilien, Indien und China – von einer Krise in die andere.

Die jungen Menschen, die China verlassen wollen, geben als Hauptgrund ihres Auswanderungswillens nicht mehr die repressiven politischen Verhältnisse, sondern die ökologisch katastrophalen Zustände an, die unzweifelhaft als Folgen einer ungebremsten Industrialisierung zu begreifen sind. Global wächst das Bedürfnis nach einer Alternative zum weltweit vorherrschenden profitorientierten Handeln.

Gespannt schlägt man den von der „Umweltphilosophin“ Barbara Muraca verfassten Text „Gut leben“ auf und wird in einen Diskurs über Utopie verwickelt. Barbara Muracas Stichwort heißt Décroissance, das sie dem „Mantra des Wachstums“, das aus allen Massenmedien tönt, entgegenschleudert. Beschwörend wird der Begriff der „konkreten Utopie“ – der Ernst-Bloch’schen Philosophie entlehnt – strapaziert, um nicht in den Verdacht zu geraten, ein absurdes Credo werde durch ein anderes ersetzt. Wer sein Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur bestätigt haben möchte, wird mit diesem Band gut bedient; aber wer wissen möchte, wie es auch anders gehen könnte, wird enttäuscht.

Dem versprochenen guten Leben fehlt jede Anschaulichkeit. Man fühlt sich an Kants „Kritik der reinen Vernunft“ erinnert: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“

Nicht konkrete Begriffe bilden den Inhalt von Barbara Muracas Weltanschauung. Als empirischer Beweis für die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft dienen ihr disparate Bewegungen weltweit, die zusammengenommen alles Wünschenswerte verkörpern: Urban Gardening, Transition Towns, solidarische Ökonomie, die ecuadorianische Verfassung.

Muraca wartet mit Zauberformeln des Guten auf. Ständig wird an „wir“ und „uns“ appelliert, immerzu wird postuliert, was sein müsste und sollte. Auch sprachlich unterscheidet sich Muracas Text nicht trennscharf von Floskeln der Werbewirtschaft, wenn sie dem Leser vorschlägt, „aktiv, kreativ und mutig“ die Gesellschaft „in sozialer und ökologischer Hinsicht“ zu verändern. Ermattet legt man den Text aus der Hand.

Barbara Muraca: „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach, Berlin 2014, 94.S., 9,90 Euro