„Die vielen Leute sind ein Erfolg“

Schon beim ersten CSD bekamen die Organisatoren mehr Kritik als Anerkennung, sagt Bernd Gaiser. Für ihn gehörten Spaß und Politik zusammen. Heute werde das Politische zu wenig wahrgenommen

Rund 500.000 Besucher werden morgen zum 29. Christopher-Street-Day (CSD) erwartet. Unter dem Motto „Vielfalt sucht Arbeit“ sind 60 Wagen zu der Parade der Lesben und Schwulen angemeldet. Die Demo soll besonders auf Diskriminierung von Homosexuellen am Arbeitsplatz aufmerksam machen. Die Route führt vom Ku’damm über den Potsdamer Platz zum Brandenburger Tor. In der Christopher Street in New York rebellierten 1969 Homosexuelle gegen Repressalien der Polizei – der Aufbruch einer weltweiten Homo-Bewegung. Bernd Gaiser, 62, hat 1979 den ersten Berliner CSD mitorganisiert. Inzwischen ist er zu einer Massenveranstaltung geworden. Teile der Szene kritisieren das: Der CSD sei unpolitisch und zu kommerziell.

INTERVIEW GIUSEPPE PITRONACI

taz: Herr Gaiser, morgen findet zum 29. Mal der Berliner CSD statt. Gehen Sie hin?

Bernd Gaiser: Ja. Obwohl viele meiner Freunde nicht mehr hingehen. Sie kritisieren die fehlende politische Kontur. Aber ich habe eine eher emotionale Bindung an den CSD.

Weil Sie 1979 den ersten Berliner CSD mitorganisiert haben?

Ja, da ist sicherlich eine Menge Nostalgie mit bei. Ich vermisse aber viele Leute von damals, die gestorben sind, etwa an Aids. Beim heutigen CSD ist das Gedenken an die Toten leider nicht mehr so verankert wie noch in den 90er-Jahren.

Werden Sie auf einem der Wagen mitfahren oder Transparente tragen?

Weder noch. Ich gehe zu Fuß, hoffentlich mit Freunden.

Auf dem CSD werden bis zu 500.000 Leute erwartet. Wie finden Sie den Umzug heute?

Ich sehe es als großen Erfolg, dass es heute so viele Leute sind. Und ich bedauere die Tendenz, dass die Veranstalter mehr Kritik als Anerkennung bekommen. Das war früher übrigens auch schon so. Als das politische Schwulenzentrum Schwuz in den 70ern eine Theke einbaute und einen Dimmer anschaffte für die Disco, hieß es: zu kommerziell. Das Dimmerlicht war „reaktionär“. Dabei nahmen die Leute vom Schwuz bloß eine Mark für ein Bier, um die Miete zahlen zu können.

Und Kommerz wie Nivea-Wagen auf dem heutigen CSD, mit den Probetütchen, die hinterher den Großen Stern pflastern: Wie finden Sie das?

Das habe ich bislang nicht mitbekommen. So was hat natürlich nichts Politisches mehr. Für mich gehörten zwei Dinge immer zusammen: Spaß und politische Arbeit. Heute stehen die politischen Forderungen nicht mehr im Vordergrund. Manchmal kommen sie mir wie ein Alibi vor. Es gibt Plakate mit politischen Sprüchen, aber sie werden kaum wahrgenommen. Was ankommt, ist die laute Musik und der Spaß am Tanzen, was auch schön ist. Aber das Politische wäre genauso wichtig.

War das 1979 anders?

Wir waren nur drei Organisatoren, aber wir haben versucht, so viele Leute wie möglich einzubinden. Viele Leute kamen damals ins Schwuz, um gemeinsam die Plakate für die Demo zu malen. Ich habe die Vermutung, die heutigen Organisatoren suchen nicht ausreichend Kontakt zur Community. Pro forma sagen sie, jeder kann zu den Vorbereitungstreffen kommen. Aber sonst passiert wenig, um die Vorbereitung öffentlich zu machen. Vielleicht sind sie zu gestresst.

Was waren Ihre Beweggründe, den CSD zu organisieren?

1979 war der Aufstand in New York genau zehn Jahre her. Wir sagten uns: Irgendwas muss dieses Jahr passieren. Unsere Forderung an die Politik war die Aufhebung des Paragrafen 175 …

eines Gesetzes, das ein anderes Schutzalter für Homosexuelle vorsah als für Heterosexuelle.

Genau. Aber ebenso wichtig war unsere Forderung an die Homosexuellen selbst: Mach dein Schwulsein öffentlich. Überall, wo sich Schwule trafen, haben wir Flugblätter verteilt: In Bars, im Park, auf öffentlichen Toiletten. Die Reaktionen waren positiv, was uns überraschte.

Was war Ihnen an dieser Forderung so wichtig?

Wenn man damals die Leute fragte, kennst du einen homosexuellen Menschen, sagten die meisten: Nein. Homosexualität war etwas Verstecktes. Kein Wunder, dass sie deshalb immer nur auf das Sexuelle reduziert wurde. Für einen Homosexuellen war es durch die Diskriminierung sehr schwer, eine Beziehung aufzubauen. Deshalb freue ich mich, dass heute so viele Leute zum CSD kommen, ihre Homosexualität öffentlich machen. Genau das war unsere Forderung.

Wer machte beim ersten Berliner CSD mit?

Uns war es wichtig, die unterschiedlichsten Homos unter ein Dach zu bekommen: Die Politaktivisten, die Spaßfraktion, die Lederfraktion. Wir waren ungefähr 500 Leute. Etwa ein Viertel waren Frauen. Ich war sehr froh, dass auch Lesben daran beteiligt waren. Zwischen Lesben und Schwulen gab es damals kaum Kooperation.

Wie reagierten die Leute auf dem Ku’damm?

Es gab nicht mehr so heftige Reaktionen wie 1973. Auch die aktive Gruppe homosexueller Lehrer musste sich nicht mehr mit Mützen verhüllen aus Angst vor Kündigung.

1973?

Im Juni 1973 haben wir zum ersten Mal eine homosexuelle Demo veranstaltet, vom Ku’damm zum Wittenbergplatz.

Wie reagierten denn 1973 die Passanten?

Es gab Unverständnis, Irritation, Staunen. Woran ich mich gut erinnere ist ein älteres Ehepaar. Ich glaube, es waren Touristen – Westdeutsche, wie sie damals die „Frontstadt“ besuchten. Sie waren schockiert, und der Mann meinte, unter Hitler hätten sie vergessen, uns zu vergasen. Aber es gab auf der Demo keine körperlichen Übergriffe, keine Pogromstimmung wie heutzutage in Russland.

Wie fühlten Sie sich, als Sie 1973 zum ersten Mal auf die Straße gegangen sind?

Wir hatten die Demo monatelang vorbereitet, Flugblätter verteilt, Plakate gedruckt. Alles war damals sehr politisch. Als die Demo dann losging, habe ich das als große Befreiung erlebt. Das alles ging einher mit meinem eigenen Coming-out.

Hatten Sie auch Angst?

Komischerweise nicht. Ich hatte viele schwule Freunde, wir waren politisch organisiert. Es gab ein Netz, das einen auffangen konnte, ich fühlte mich sicher.

Wie war es auf der Arbeit, als Buchhändler bei Kiepert, der damals größten Buchhandlung?

Der Buchhandel ist und war ein relativ liberales Umfeld. Ich habe vor der Demo jeden Tag das Demoplakat in der Buchhandlung aufgehängt. Am anderen Morgen war es immer weg. Abgerissen vom Chef, wenn er abends den Laden schloss. Da war mir klar: Ich muss mit ihm reden. Ich sagte ihm, dass ich das Plakat aufgehängt habe und warum. Danach ließ er es hängen und beförderte mich sogar.

Wie viele Leute kamen denn 1973 auf die erste Homo-Demo?

Ungefähr 700, ein Drittel davon Frauen. Es gab noch keinen einzigen Wagen, alle waren zu Fuß, Transparente beherrschten das Bild. Die Teilnehmenden kamen aus Berlin, Westdeutschland, sogar Italien und Frankreich.

Wurde über die Demos damals berichtet?

Es gab bereits 1973 in der „Tagesschau“ einen Bericht über die Demo, ganz am Schluss, es war das erste Mal. Der Bericht schloss mit einem Bild von Pompadour, einem sehr engen Freund von mir. Eine Tunte. Da hat sich leider bis heute nicht viel in den Medien geändert: Schwule haben nur Nachrichtenwert, wenn sie als aufgetakelte Tunten auftreten. Nach dem Motto: „Marsch der Lidschatten“, was die Überschrift eines Artikels darüber in einem Blatt von Springer war.

Was gefällt Ihnen persönlich nicht am heutigen CSD?

Viele bringen sich durch Alkohol oder andere Stimulanzien in Stimmung. Als ob die reine Teilnahme nicht dafür reicht.

Party um jeden Preis?

Eine Initiative hatte vor einiger Zeit die Idee, eine Gruppe schwuler Rollstuhlfahrer zu fragen, ob sie aktiv mitmachen beim CSD. Aber die Rollstuhlfahrer selbst lehnten das ab – aus Angst, die Atmosphäre zu beeinträchtigen. Das fand ich furchtbar. Auch die Kluft zwischen alten und jungen Schwulen ist größer, als ich je für möglich gehalten hätte. Alte Schwule trauen sich nicht, in die Gay Community zu gehen, aus Angst vor Ausgrenzung.

Wenn die Organisatoren des CSD zu Ihnen kämen mit der Bitte um Beratung. Was würden Sie ihnen sagen?

Ich hoffe, dass das nicht passiert. Ich habe den jüngeren Leuten keine Ratschläge zu erteilen. Das wäre anmaßend. Bloß um die Aufhebung der Kluft zwischen älteren und jüngeren Lesben und Schwulen sollten wir uns vielleicht kümmern.