„Judenverfolgung muss nich sein“

ORTSTERMIN In Marzahn versammeln sich 500 Demonstranten, um gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft zu brüllen. Warum? „Hier leben Kinder“

„Wir fordern, dass die Volksschädlinge abgesetzt und von einem Volksgericht bestraft werden“

EIN REDNER HÄLT NICHT VIEL VON „DEN“ POLITIKERN

AUS BERLIN DENIZ YÜCEL

Eine „Bürgerbewegung Marzahn“ hat zu einer „Montagsdemonstration“ aufgerufen, die dritte in Folge, die sich gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft im Ostberliner Plattenbaubezirk Marzahn-Hellersdorf richtet. Zugleich gab es Aufrufe zu Gegendemonstrationen, was auf der Facebook-Seite der „Bürgerbewegung“ für Diskussionen sorgte: „Die Wohnen nicht mal in Marzahn und wollen uns die Nazikeule ans Bein binden..Pack!!!“

Einige Stunden später haben sich etwa 500 Leute in Marzahn versammelt. Ein paar jüngere Frauen, einige ältere Menschen und viele, sehr viele junge Männer mit kahl rasierten Schädeln und schwarzen Windjacken. Auf der anderen Straßenseite, getrennt durch die Polizei, stehen etwa 400 Gegendemonstranten.

Noch bevor es losgeht, stimmt die „Bürgerbewegung“ den Stadiongesang „Wir ham die Schnauze voll, wir ham die Schnauze voll“ an. Wovon haben Sie die Schnauze voll? „Mit dir rede ich nicht“, antworten die meisten, sofern sie überhaupt etwas sagen. Den Kolleginnen und Kollegen ergeht es genauso. „Nicht mit die reden!“, habe ein Demonstrant die Umstehenden ermahnt, erzählt eine Kollegin vom RBB, nachdem sie es gewagt hatte, doch mal nachzufragen.

Ein hünenhafter Taxifahrer um die 40 spricht trotzdem. Auch er will keine Nazikeule ans Bein gebunden bekommen: „Warum sprecht ihr immer von Nazis, wenn ihr freie und stolze Deutsche seht?“ steht auf seinem Schild. Er sei „Deutschnationaler“. „Neonazi“ empfinde er als Beleidigung. Hier seien „höchstens ein paar Neonazis“.

Das passt zur Einschätzung des Innensenators Frank Henkel (CDU), der vorige Woche sagte, Rechtsextremisten würden versuchen, auf die „realen Sorgen“ von Anwohnern „draufzusatteln“. Genutzt hat Henkel diese Anbiederung jedoch nichts. Schon im ersten Redebeitrag geht es gegen „die“ Politiker: „Wir fordern, dass die Volksschädlinge abgesetzt und von einem Volksgericht bestraft werden“, krächzt der Redner, die „Anwohner“ jubeln. Dann scheppert Liedgut des Nazirappers Villain051 aus dem Lautsprecherwagen. In einigem Abstand steht der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke sichtlich zufrieden.

Die Demonstration zieht los. „Wir wollen keine – Asylantenheime!“ Warum eigentlich? „Hier leben Kinder“, antwortet eine Blondine Ende zwanzig. Ja, und? „Dit fragen Se noch? Ick sach doch: Hier leben Kinder.“ Den Hinweis hält sie für selbsterklärend, als ginge es darum, eine Müllverbrennungsanlage auf einem Schulhof zu verhindern.

Dann findet sich noch ein junger Glatzkopf, der bereit ist zu reden. „Die Asylanten bekommen alles in Arsch geblasen. Dit is nich okay.“ Die geplanten Containerunterkünfte hält er für komfortabel? „Nee, die nich. Aber später bekommen die allet jeschenkt: Wohnungen, WLAN, alles.“ Er macht eine Umschulung und ist in Marzahn aufgewachsen. Auch ein Anwohner also. Bei den Montagsdemonstrationen 1989 war er noch nicht geboren, stimmt bei dem Ruf „Wir sind das Volk“ aber besonders inbrünstig ein. Haben seine Eltern damals mitgemacht? „Hab ick die noch nie jefragt.“ Ist er Demokrat? „Kommt uffs Thema an.“ Und wo sieht er sich selbst politisch? „Ick bin rechts. Aber nich so extrem. Ick sach ma: Judenverfolgung, dit muss nich sein.“

Inmitten der Menge trägt jemand eine riesige Deutschlandfahne. Wie groß genau ist sie? Der breitschultrige Mittdreißiger, der mit beiden Händen die Fahnenstange umklammert, lächelt nur kurz. Er ächzt unter der schweren Last. Dafür springt sein Nebenmann ein: „Drei mal fünf Meter“, erzählt er strahlend. „Stadiongröße. Gibt’s bei Kaufland. Willste mal tragen?“ Nee, lieber nicht. Bin kein Anwohner.