Harter Stoff für Rockjunkies

Lou Reed führt sein düsteres Album „Berlin“ in Düsseldorf auf. Nur knapp tausend Fans wollen den Altmeister auf der Zeitreise in die drogenverseuchte Vergangenheit begleiten. Stehende Ovationen

AUS DÜSSELDORF HOLGER PAULER

„How do you think it feels, when you‘re speeding and lonely...“ – selten klangen die Zeilen gnadenloser und bitterer als am Montagabend in der Düsseldorfer Philipshalle. Erst 34 Jahre nach der Veröffentlichung bringt Lou Reed sein Album „Berlin“ erstmals als Gesamtkunstwerk auf die Bühnen der Welt. Doch nur knapp 1.000 Hardcore-Fans wollten ihm folgen – in ein Gebäude, das auch locker die sechsfache Zahl an Besuchern hätte fassen können. Preise zwischen 49 und 78 Euro ließen die Leute zögern. Lediglich die billigen Plätze waren gut gefüllt.

Dass Lou Reed die Deutschland-Premiere seiner „Berlin-Tour“ ausgerechnet in Düsseldorf veranstaltete, mag verwundern. Der manisch-düstere Song-Zyklus war auf das Flair der damals noch geteilten Mauerstadt Berlin zugeschnitten. Nach der erfolgreichen Uraufführung im vergangenen Jahr in seiner Heimatstadt New York sollten die Lieder auch erstmals live am Ort des Geschehens erklingen. Wegen der angeblich allzu großen Nachfrage wurde Düsseldorf als Zusatztermin eingeschoben – einen Tag vor Berlin.

Vermutlich waren es auch die Themen, die die rockende Laufkundschaft vom Konzertbesuch abhielt. Das zum Teil autobiografisch angelegte „Berlin“ handelt von Sex, Drogen, Gewalt und Tod – eine hoffnungslose Beziehung zweier Speedfreaks in zehn Kapiteln. Harter Stoff, selbst für Rockjunkies. „Manche Platten sind so ausgekocht widerlich, dass man an den Künstlern, die sie verbrochen haben, am liebsten physisch Rache nehmen möchte“, schrieb der amerikanische Rolling Stone 1973 über „Berlin“. Lou Reed hatte damals mit der von David Bowie produzierten Glamrock-Platte „Transformer“ den Sprung vom Velvet Undergound-Mitglied zum Solo-Künstler geschafft. Und nun war er dabei, seine Karriere zu zerstören – nicht zum letzten Mal. Am Montagabend spielte das keine Rolle mehr. Die Band, bestehend aus den beiden Bassisten Rob Wassermann und Fernando Saunders, dem Gitarristen Steve Hunter, Schlagzeuger Tony Smith, Sängerin Sharon Jones, Bandleader und Keyboarder Rupert Christie und Lou Reed an Gitarre und Gesang gab das Oeuvre routiniert wieder. Unterstützt wurden sie vom zehnköpfigen New London Children‘s Choir, Bläsern und Streichern. Der New Yorker Künstler Julian Schnabel entwarf zudem ein expressionistischen Bühnenbild, das von grauen Vorhängen eingerahmt wurde. Verstörende Videoclips untermalten die Songs. Angstfreie Räume sehen anders aus. Kein Klima zum Wohlfühlen.

Das mittelalte Publikum saß eingeschüchtert und versteinert auf den Stühlen, hörte konzentriert zu. Die Masse schwieg während der Performance. Nur zwischen den Songs gab es kurzen, heftigen Applaus. Die Songs waren klar durcharrangiert. Bombastrock und Kammermusik im stetigen Wechsel. Zwischendurch erlaubte sich Lou Reed einige rockige, gewohnt schräge Ausflüge auf seiner Gitarre. Die sonore Stimme hat an Volumen und Oktavumfang eingebüßt. 40 Jahre im Rock‘N‘Roll haben ihre Spuren hinterlassen. Nach 75 Minuten fiel der Vorhang. Stehende Ovationen. Ein echtes Gesamtkunstwerk.

In den Zugaben hatte Reed übrigens doch noch Zugeständnisse an den Mainstream gemacht: Der Drei-Akkord-Rocker „Sweet Jane“ erschien im Metallgewand, die Hits „Satellite of Love“ und vor allem „Walk on the Wild Side“ bewegten sich dank Kinderchor und doppeltem Standbass nahe an den auf dem Album „Transformer“ erschienen Originalversionen. Nett, aber irgendwie auch überflüssig. Denn eigentlich war mit „Sad Song“ am Ende des „Berlin“-Sets bereits alles gesagt: „I‘m gonna stop wastin‘ my time...“