„Verantwortlich – aber nicht schuldig?“

LUXEMBURG Der französische Ökonom Gabriel Zucman über die Rolle von EU-Kommissionschef Juncker in der Steueraffäre: Mehr Transparenz ist dringend nötig. Konzerne sollten anteilig nach Umsatz besteuert werden

■ Jahrgang 1986, veröffentlichte in diesem Jahr das Buch „Steueroasen“. Er unterrichtet an der London School of Economics.

INTERVIEW ERIC BONSE

taz: Herr Zucmann, Sie gelten als einer der schärfsten Kritiker der Steueroasen. Was halten Sie von den Luxemburg Leaks?

Gabriel Zucman: Sie zeigen, welches Ausmaß das Geschäft mit der Souveränität angenommen hat, dem sich die luxemburgische Regierung hingegeben hat. Luxemburg hat diese Logik auf die Spitze getrieben, aber es ist nicht allein. Alle kleinen Länder unterliegen dieser Versuchung.

Hat Sie der Skandal überrascht?

Nein, denn in Luxemburg konnte man die Dimension schon an den makroökonomischen Daten erkennen. Luxemburg wurde von Konzernen aus der ganzen Welt für Steuersparmodelle genutzt. Folge: Ein Drittel der Wirtschaftsleistung dient einzig und allein dazu, die ausländischen Eigner von Holdings und anderen leeren Hüllen zu bezahlen. Das ist enorm. Kein anderes Land ist so weit gegangen.

Welche Rolle spielt dabei EU-Kommissionschef Juncker?

Ich weiß nicht, wieweit er persönlich beteiligt war. Ich weiß nur, dass er die politische Verantwortung getragen hat. Er hat es ja selbst vor der Presse in Brüssel gesagt: „Ich bin politisch verantwortlich“. Aber seine Aussagen sind konfus: verantwortlich, aber nicht schuldig; für Steuer-Wettbewerb, aber auch für Harmonisierung? Seine Rede wird so unverständlich. Ich hoffe, dass die Presse und die Europaabgeordneten noch mal nachhaken.

Juncker hat angekündigt, die EU-Kommission werde einen automatischen Informationsaustausch zu den umstrittenen Tax Rulings vorschlagen.

Das geht in die richtige Richtung, es kann nicht schaden. Aber es ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Was wäre noch nötig?

Man muss damit aufhören, die Konzerne ihre Steuern in den nationalen Filialen bezahlen zu lassen. Es wäre besser, sie nach ihren konsolidierten Überschüssen zu besteuern.

Und wie könnte man dann die Steuerlast der verschiedenen Länder berechnen?

Zum Beispiel, indem man den Umsatz als Basis nimmt: Wenn ein großer Multi 10 Prozent seines Umsatzes in Deutschland macht, dann müsste er auch zehn Prozent seines weltweiten Jahresüberschusses in Deutschland versteuern. Da die Konzerne den Standort ihrer Kunden nicht manipulieren können, würde dieses System das Ende der steuerlichen Optimierung und der damit verbundenen Industrie bedeuten!

Das hat ja nicht einmal die G 20 in Brisbane geschafft?

Die G 20 ist aber auch nicht unbedingt das richtige Gremium dafür. Sie bringt Industrie- und Entwicklungsländer zusammen, die unterschiedliche Lösungen für das Problem der Steuerflucht brauchen. Es wäre besser, eine Einigung zwischen Europa und den USA zu suchen, etwa im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP.

Können denn die 28 EU-Staaten nichts allein gegen die Steuerflucht unternehmen?

Aber ja doch! Sie müssten endlich den Vorschlag der EU-Kommission über eine Gemeinsame Steuerbemessungsgrundlage (GKKG) umsetzen, der ein gemeinsames System zur Bemessung der Steuergrundlage für Unternehmen vorsieht. Alle müssen diese Richtlinie umsetzen. Im zweiten Schritt müssen Apple, Amazon und alle anderen Konzerne auf derselben Basis besteuert werden. Drittens muss die EU mit den USA eine entsprechende Vereinbarung treffen. Das wäre ein Riesenschritt.

Wer steht auf der Bremse?

Man weiß nicht, wer blockiert, die Intransparenz in der EU bei diesen Fragen ist ein echtes Drama. Aber wir wissen, dass Juncker seinen Einfluss gelten machen und sich persönlich für die GKKG einsetzen könnte. Er kann die Dinge in Bewegung bringen, wenn er es wirklich will.