Eine Irrfahrt am Rande des Nervenzusammenbruchs

ALT & NEU Deutschlandradio Kultur sendet Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ (So., 18.30 Uhr)

Das Stück hat nichts Weinerliches an sich, nichts von einer halbherzigen Depression

Hätte es vor einem halben Jahrhundert den Begriff der Quarter-Life-Crisis gegeben, die konservative feuilletonistische Kritik hätte ihn Ingeborg Bachmann entgegengeschleudert. Denn Bachmann lässt ihr namenloses Ich in der Erzählung „Das dreißigste Jahr“ bitter bekennen: „und er stürzt hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte“.

Aber der zumindest damals gnädig gestimmte, heute greise Kritikerpapst Reich-Ranicki attestierte lediglich „stilistische Entgleisungen“ eines „typischen Erstlings“. Zumindest in dem Punkt hatte er sachlich Recht, denn Bachmann hatte zuvor vor allem als Lyrikerin für Aufmerksamkeit gesorgt. Bevor der Erzählband – ihr erster – 1961 erschien, wurde dessen namensgebende Geschichte allerdings für das Radio adaptiert. Für das Radio hatte sie bereits Anfang der 50er Jahre in Wien gearbeitet – als Hörspielredakteurin für den Wiener Sender Rot-Weiß-Rot.

Beim Deutschlandradio Kultur hat man sich nun an die Audiofassung der Erzählung von 61 erinnert und sendet am kommenden Sonntag um 18.30 Uhr die digitalisierte Urfassung. Verantwortlich für die Produktion des von Oswald Döpke und Gert Westphal gesprochenen Monolog eines nicht näher benannten Ichs waren Radio Bremen und der Süddeutsche Rundfunk. Der vor wenigen Tage verstorbene Döpke führte auch Regie. Die beiden Hauptdarsteller zählten zu den Besten ihres Fachs. Der 2002 gestorbene Westphal galt seiner Zeit als „König der Vorleser“. Oswald Döpke, den bis zum Tod Bachmanns 1973 eine innige Freundschaft mit der Dichterin verband, machte später Karriere als Regisseur beim ZDF.

Das sprachliche Wechselspiel des Hörspiels, alleinig über die minimalistische Präsenz der beiden Sprecherstimmen – die eine sanft, fast bedächtig, die andere fordernd, aggressiv – verleiht der zentralen Figur und dessen seelischen Brüchen eine ungeheure akustische Zugkraft. Der junge Mann in Erwartung des 30. Lebensjahrs wird getrieben von fortwährenden gedanklichen Reflexionen über den Sinn seiner Existenz. Gesellschaft hält er kaum noch aus und flüchtet ins sommerliche Italien, wo er auf seine einstigen Jugendfreund Moll und die inzwischen vergangenen große Liebe Elena trifft.

Es hält ihn jedoch nichts. Er fühlt sich „ohnmächtig bei Bewusstsein“ und scheint der ungeheuren „Kränkung, die das Leben ist, zu erliegen“. Bachmann arbeitet sprachlich kompakt und mit ungeheuren lyrischem Nachdruck eine Irrfahrt am Rande des Nervenzusammenbruchs heraus. Da weder Musik noch Geräuschkulisse die fragile Identitätssuche begleiten, steckt man ohne jede Ablenkung im Kopf des sich permanent gegen sich selbst behauptenden Namenlosen.

Für die Dramaturgin und Regisseurin Ulrike Brinkmann vom Deutschlandradio Kultur entfacht die wieder ausgegrabene Produktion „einen unwillkürlichen Sog, bei dem jeder Satz für sich steht“. Ohnehin sei der Zeitraum Anfang der 1960er Jahre historisch extrem spannend, weil im Genre sich zunehmend experimentelle Formen zu etablieren beginnen, erzählt sie weiter.

Man kann nun trotz allem hinter diesem Hörspiel einen ziemlichen hermetischen Brocken vermuten, der sich dem Verständnis entzieht. Seine sprachliche Meisterschaft, inhaltlich wie, formell spielt aber keineswegs die weinerliche Karte einer halbherzigen Depression in unverständlichen Metaphern, sondern sucht immer nach substanziellen selbstkritischem Ausdruck. Nach fünfzig Jahren spielt „ein verlassenes Instrument“ wieder, dessen Töne bitter sind, aber nachvollziehbar. Es lohnt sich zuzuhören. JAN SCHEPER