die taz vor zwanzig jahren über das eklatante demokratiedefizit der europäischen gemeinschaft
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Es ist immer das gleiche Spiel: Beim Familienfoto zu Beginn eines europäischen Gipfeltreffens sonnen sich die Herren und die eine Lady noch im Medien-Interesse. Dann hat sich’s mit der Öffentlichkeit aber auch schon: Getagt, gestritten und beschlossen wird hinter verschlossenen Türen. Das wird hingenommen als allgemein übliches Gebaren von Regierungsgremien. So war es auch gestern in Hannover, wo unter Vorsitz von Kanzler Helmut Kohl das 39. EG-Gipfeltreffen stattfand und über den gemeinsamen Binnenmarkt beraten wurde, der bis 1992 Wirklichkeit werden soll.

Dabei wird übersehen: Wenn sich die Oberhäupter der EG-Regierungen zur Gipfelrunde versammeln, dann fungieren sie als das gesetzgebende Organ der Europäischen Gemeinschaft. Man stelle sich vor: Der Bonner Bundestag beriete ab sofort nur noch in geheimer Sitzung! In der Europäischen Gemeinschaft aber stört sich daran niemand. Der Rat setzt europäisches Recht, und mit jeder Richtlinie wird den nationalen Parlamenten ein Scheibchen Zuständigkeit abgezwackt. Es wird aber nicht dem Europäischen Parlament in Straßburg zugeschlagen, sondern dem Rat. Das heißt: Die Mitglieder nationaler Exekutiven wirken auf EG-Ebene als Legislative. Für sie ist Brüssel das Paradies: Endlich regieren ohne Parlament, ohne öffentliche Kontrolle. „Die stille Revolution“ nannte der französische EG-Kommissionschef Jacques Delors die sich in immer rasanterem Tempo anbahnende Vollendung des europäischen Binnenmarktes.

Alles gafft auf die ökonomische Schiene, die politische Dimension bleibt in der Grauzone. Mit dem grenzenlosen Binnenmarkt emanzipiert sich das Kapital von der parlamentarischen Demokratie. Wir erleben eine Transformation der Demokratie, die Metamorphose Westeuropas vom Parlamentarismus zur Eurokratur. Aber wird sie auch wahrgenommen?

Thomas Scheuer in der taz vom 28. 6. 1988