Das Ende des Wollsockenzeitalters

GLOBAL POP Schluss mit wohlmeinendem Ethno-Groove: Funkhaus Europa sendet zeitgemäßes Integrationsradio

Das Funkhaus: Funkhaus Europa ist der größte interkulturelle Sender in Deutschland. Der Westdeutsche Rundfunk, Radio Bremen und der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) produzieren und senden das großteils deutschsprachige Vollprogramm. Der Wortanteil liegt bei rund 40 Prozent. Der Norddeutsche Rundfunk übernimmt einzelne Sendungen. Zwischen 18 und 23 Uhr laufen unter der Woche je einstündige Sendungen auf Türkisch, Italienisch, Serbokroatisch bzw. Bosnisch, Russisch und Polnisch. Sonntags sendet Funkhaus Europa Magazine auf Kurdisch, Griechisch, Spanisch und Arabisch.

Der öffentlich-rechtliche Rest: Auch der Bayerische Rundfunk (B5 aktuell) und der Hessische Rundfunk (hr-info) bieten interkulturelle Sendungen auf Deutsch einmal wöchentlich an. Der Südwestrundfunk (SWR cont.ra) produziert unter der Woche täglich ein multikulturelles Magazin. Der RBB-Sender Radio Multikulti wurde hingegen 2008 eingestellt.

AUS KÖLN MORITZ SCHRÖDER

Irgendwie ist Italien heute abhandengekommen. Der Espresso ist leer, und in Rom geht keiner ans Telefon. Francesca Mereu schaut nervös zur Uhr. In wenigen Stunden muss ihr Beitrag fertig sein, und ihr fehlt noch eine Information der italienischen Behörden. „In Rom sind es halt 40 Grad“, scherzt Kollegin Paola Fabbri. Francesca wählt noch mal. Gleich muss sie raus zur Umfrage.

Redaktionsleiter Tommaso Pedicini sitzt derweil im Büro nebenan und jongliert mit Wörtern. „Moin Ingo … ja danke! Pronto? Tiziana, ciao! Si si grazie!“ Er legt auf und schaut auf den Monitor. Wie bei einem Automatikgetriebe wechselt er zwischen den Sprachen. Jetzt erklärt er dem deutschen Gast den Ablaufplan für die heutige Sendung von Radio Colonia.

Mit drei weiteren Redakteuren produziert Tommaso jede Woche fünf Sendungen für den öffentlich-rechtlichen Sender Funkhaus Europa in Köln. Tommaso leitet die italienische Redaktion, und Italien ist für ihn jetzt ganz weit weg. In Gedanken ist er in Westfalen. Dort bereitet sich Autorin Tiziana auf ein Live-Interview aus dem Ü-Wagen vor. Zu Gast sollen zwei italienische Migranten sein.

Fünf Schwarzweißfotos hängen an der Wand, wie Fenster lassen sie Tommaso aus seinem Kölner Büro nach Italien blicken. Eines zeigt junge Männer, verteilt um einen großen Topf, aus dem dünne Pasta herauslugt. Auf einem anderen stehen sie lächelnd vor einem Zugabteil.

Die Männer sind austauschbar. Tommaso kennt sie nicht, doch er nimmt seine Brille ab und zieht jetzt selbst ein Lächeln über sein schmales Gesicht: „Sie erinnern mich daran, was wir Italiener in Deutschland erreicht haben. Es war ein langer Weg.“

Mitten im kaffeedeutschen Redaktionsalltag kommt plötzlich alles wieder hoch: das Anwerbeabkommen für Italiener 1955, ein Leben in deutschen Baracken, Schwitzen in Kohleminen und am Bau. Deutsch konnte damals kaum jemand von den Gastarbeitern. Die Kollegen in Fabriken und Stollen waren Fremde, die Anweisungen gaben.

Celentano für alle

Dann kam der Abend, der vieles veränderte. Vor fast 50 Jahren, am 1. Dezember 1961, rauschten vertraute Worte aus dem Radio. Mit Radio Colonia hatte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) das erste tägliche Programm für Gastarbeiter eingeführt. Italienische Moderatoren berichteten über die Politik in Italien und Deutschland. Reporter besuchten die Gastarbeiter in ihren Baracken. Und endlich konnten sie Adriano Celentano auch nördlich der Alpen hören. Das Programm sollte den Italienern ihre Heimat nahebringen und ein Wegweiser in die deutsche Gesellschaft sein. Viele schalteten Abend für Abend ein. Andere Sender sendeten ähnliche Programme einmal wöchentlich.

Tommaso setzt seine Brille wieder auf. Das ist nicht seine Geschichte. Er kam erst vor 14 Jahren aus Meran im Südtirol nach Deutschland – für seine Doktorarbeit. Neun Jahre lang schlug er sich als freier Journalist für deutsche und italienische Medien durch, bis er 2007 Redakteur bei Radio Colonia wurde.

Mit einem dicken Bündel misst der 39-Jährige seinen beruflichen Erfolg. Hinter seinem Schreibtisch hängen die Presseausweise früherer Arbeitgeber an der Wand. Es müssen um die 40 sein: „Ich kokettiere damit“, sagt er und muss lachen.

Wie Tommaso haben viele Redakteure aus anderen europäischen Ländern in Deutschland Medienkarriere gemacht. Spanier, Griechen, Türken, Exjugoslawen: Waren sie zunächst den Gastarbeitern gefolgt, die für die deutsche Industrie buckelten, kamen sie später auf gut Glück.

Wer wissen will, wie sich in einem halben Jahrhundert das Radio verändert hat, der muss nur Tommasos Büro verlassen und rechts den Flur runtergehen. Am Ende wartet Thomas Reinke, Chefredakteur von Funkhaus Europa, das seit Mai 1999 Menschen verschiedener Herkunft ansprechen möchte. Auf seinem schwarzem Sofa lernt der Gast zuerst, dass Worte verdammt vergänglich sind. „Fremdsprache? Wir sagen Muttersprache.“ – „Multikulti? Hat auch was Wollsockiges.“ – „Menschen mit Migrationshintergrund. So eine Wortkonstruktion aus dem Wissenschafts- und Politikbetrieb. Besser: interkulturell.“

Reinkes Stilgebaren wirkt nicht pedantisch. Wenn der Mann mit den grauen kurzgestutzten Haaren nach vorn gelehnt auf seinem Sofa sitzt, ist er mehr der begeisterte Radioentwickler, der dem Hörer sein neuestes Projekt erklärt. Und dabei geht es eben ums Detail.

Tagsüber sendet Funkhaus Europa auf Deutsch, abends sind dann die Muttersprachler dran. Das ist Reinke sehr wichtig: „Das Programm soll alle ansprechen, egal, ob sie einen interkulturellen Hintergrund haben oder einfach weltoffen und neugierig sind.“ Musikalisch habe sich sein Sender mittlerweile von wohlmeinender „Weltmusik“ abgesetzt, sagt Reinke. Der Mann mit dem Hemd in der Hose will weg von Wollsocken und Strickpullis. Reinkes Antwort auf den wohligen Ethnogroove heißt „Global Pop“. Balkan trifft Ska trifft Elektro trifft Soul, hier ein wenig HipHop, da ein bisschen Akkordeon: Fertig ist „das Aroma der Welt“.

Dieser Mix macht Funkhaus Europa in Deutschland einzigartig, ist Reinke überzeugt – „piratig“ nennt er das. Zu empfangen ist das Programm in Köln, dem Ruhrgebiet, Bremen, Berlin und teilweise in Brandenburg. Laut Reinke ist die Zahl der regelmäßigen Hörer in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, auf heute rund 900.000.

Dass Funkhaus Europa damit aber immer noch zu den kleinen Nischenprogrammen gehört, gesteht sich Reinke bei aller Begeisterung ein. Die Baracken sind schon lange leer, viele Gastarbeiter haben Deutschland verlassen. Die, die geblieben sind, koppeln sich oft lieber per Satellitenfernsehen an die Heimat, als das Radio einzuschalten. In Nordrhein-Westfalen hört täglich bloß 1 Prozent der Menschen Funkhaus Europa, in Bremen sind es 2,5 Prozent. Aber auch das ist ja irgendwie „piratig“.

Einsamer Pirat

Nur ist der Pirat mittlerweile ziemlich allein auf Hörerbeutezug. Im Jahr 2008 wurde der bis dahin größte Konkurrent, Radio Multikulti vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), versenkt. Seit 1994 hatte er in bis zu 17 verschiedenen Sprachen gesendet. Irgendwie wollten ihn alle, nur hören wollte ihn keiner – Tagesreichweite: unter 1 Prozent. Alle Luftballons und einstudierten Tänze halfen nichts. Seitdem ist der RBB Zulieferer. Fünf muttersprachliche Formate erhält Funkhaus Europa aus Berlin.

Auch dem Hessischen Rundfunk sind seine früheren Sendungen auf Spanisch und Griechisch zu teuer geworden. Beide Beispiele zeigen: In Zeiten sinkender Gebührengelder zählen die Muttersprachenprogramme zu den ersten Opfern.

Zugleich machen private Sender den verbliebenen öffentlich-rechtlichen Projekten Hörer abspenstig. Sie heißen Radio Russkij oder Metropol FM. Die Erfolgsrezepte sind Musik und Masse: „Im Vergleich zu Funkhaus Europa versuchen wir mehr die bildungsferne Schicht der Deutschtürken zu erreichen, also auch den Taxifahrer Ahmed“, sagt Tamer Ergün, Geschäftsführer von Metropol FM, das seit 1999 Programm auf Deutsch und Türkisch anbietet. Und Ahmed schaltet ein. Allein in Berlin steigerte Metropol FM zwischen 2006 und 2010 die Zahl seiner regelmäßigen Hörer unter den Menschen mit türkischer Herkunft um fast 10 Prozentpunkte auf gut 76 Prozent.

Radio Colonia kann von solchen Zahlen nur träumen. Doch Tommaso bleibt gelassen. Private Konkurrenz auf Italienisch gebe es nicht: „Nur wir zeigen das Leben der Italiener in Deutschland“, sagt er mit ruhiger Bestimmtheit, aber auch: „Sicher, wir müssen noch mehr für uns werben.“ Tommaso schaut dabei auf die neuen Migranten aus Italien, vor allem junge Akademiker. Und auch Deutsche hören heute Radio Colonia, und sei es nur für das Toskana-Flair.

Doch jetzt ist keine Zeit mehr für solche existenziellen Fragen. Es ist 18 Uhr. Eine Stunde bis zur Sendung. Tommaso schenkt noch mal Kaffee nach und hört sich Francescas Beitrag an. Noch immer keine Stimme von den Behörden aus Rom. Stattdessen Informationen aus Deutschland. Tommaso nickt. Die Sendung steht. Moderatorin Paola eilt ins Studio. 19 Uhr: Italien lebt.