Kleinkind in der Polizei-Kartei

Lino* wird im September zwei Jahre alt und ist bereits erkennungsdienstlich behandelt worden. Während der G 8-Proteste wurde er mit seiner Mutter bis Mitternacht in Gewahrsam genommen

VON EIKEN BRUHN

Nicole B. ist eine vorsichtige Frau. Auf dem Rad trägt sie einen Helm und wegen ihres kleinen Sohns nahm sie während der G 8-Proteste Anfang Juni nicht an Blockaden teil, sondern fuhr mit dem Bus vom Camp nach Rostock, um dort zu demonstrieren. „Ich dachte, so kann nichts passieren, ich kann jederzeit gehen.“ Sie lag falsch. An diesem 5. Juni geriet sie vormittags mit 40 MitfahrerInnen in eine Polizeikontrolle. Erst um Mitternacht wurden sie und ihr Kind aus dem Gewahrsam entlassen, mit ein paar Bananen auf eine menschenleere Straße in einem Rostocker Gewerbegebiet. Und der Auflage, zwölf Stunden später den Landkreis verlassen zu haben. Ursprünglich sollte sie sofort gehen, doch sie machte den Polizisten klar, dass das nicht ging mit Kleinkind, Fahrrad und Anhänger. Weil die Bahn zu dem Zeitpunkt wegen der überfüllten Züge keine Räder mehr transportierte, suchte sie zurück im Camp bis drei Uhr nachts nach einer Mitfahrgelegenheit. Sie wollte keine erneute Festnahme riskieren, die sie ins Gefängnis hätte bringen können. „Das kann ich meinem Kind nicht antun.“

Ob der Platzverweis rechtens war, wird juristisch überprüft, ebenso, warum ein Kleinkind für die Polizeikartei fotografiert wurde. Mit leiser Stimme, aber in sehr klaren Worten schildert Nicole B., wie die Polizisten Faxen gemacht haben, damit Lino* in die Kamera guckt. Sie hatte erfolglos versucht, Lino, den sie auf dem Arm trug, davon abzuhalten. Jetzt hat sie ein schlechtes Gewissen, weil er als Kind bei der Polizei bekannt ist. Protestiert hatte sie bewusst nicht, um Lino nicht zu verunsichern. „Ich habe versucht dir das Gefühl zu vermitteln, das alles so okay ist, genau wie geplant“, hat sie ihm in ein Tagebuch geschrieben, in dem er später einmal nachlesen können soll, was er als kleines Kind erlebt hat. Maulig wurde Lino, als die Polizisten seine Mutter durchsuchten. „Du fasst mich doch auch gerne an“, hat sie ihm erklärt. „Absurd“, sagt sie jetzt und schüttelt den Kopf.

Mit ihrer „Deeskalations-Strategie“ hatte die 27-Jährige Erfolg: Lino nahm alles gelassen hin, auch die Käfige, in denen Demonstranten eingesperrt waren, er freute sich über die vielen Polizisten. „Tatütata findet er toll.“ Das sei in Ordnung, sagt die Sozialarbeiterin, er solle sich selbst eine Meinung bilden. Einige Polizisten seien sehr nett gewesen – „ich hatte den Eindruck, dass viele die Maßnahmen für unsinnig hielten“ – und auf die Frage eines Beamten, ob Lino durchsucht worden sei, behauptete ein Kollege einfach „ja“. Damit ersparte er Lino eines Leibesvisitation.

Nicole B. hat weniger gute Erinnerungen an den Tag als ihr Kind. Sie hatte das Gefühl, die anderen Protestler im Stich zu lassen. „Ich war sauer und enttäuscht“, sagt sie, „ich habe nichts Verbotenes getan, sondern wollte auf einer angemeldeten Demo protestieren und bin Bus gefahren.“ Warum sie in Gewahrsam genommen wurde, weiß sie nicht. „Es hieß, wir hätten Halstücher und Handschuhe im Bus gehabt.“ Nicole B. hatte auch ein Tuch dabei. Ein Tragetuch.

*Name von der Redaktion geändert