Odyssee ohne Ende

AUFNAHME Hamburg und Bremen wollen, dass minderjährige Flüchtlinge künftig über das Bundesgebiet verteilt werden. Flüchtlingsinitiativen kritisieren den Vorstoß massiv

■ Eine Verwaltungsvorschrift ist eine interne behördliche Anweisung, wie bestimmte Gesetzesvorschriften in der Praxis anzuwenden sind. Sie soll Gesetzesbestimmungen auslegen und konkretisieren und somit den nachgeordneten Behörden Klarheit verschaffen. Sie dienen damit auch der möglichst bundesweiten Einheitlichkeit von Verwaltungsentscheidungen.

■ Im Sozial- und Ausländerrecht werden solche Verwaltungsvorschriften zum Teil als sehr problematisch angesehen, wenn sie eine konkrete Außenwirkung auf die Betroffenen entfalten, diese sich dagegen aber nur bedingt wehren können. Konkret gilt dies zum Beispiel für bestimmte Verwaltungsvorschriften, die Ansprüche für Hartz-IV-Empfänger regeln. Auch Regelungen zur Aufenthaltsbestimmung und Datenerfassung von Flüchtlingen gehören dazu.

■ Ein Verwaltungsakt entfaltet im Gegensatz dazu unmittelbare Außenwirkung. Es handelt sich dabei um Einzelfallregelungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Ob eine staatliche Maßnahme einen Verwaltungsakt darstellt, hat unmittelbare rechtliche Konsequenzen: Denn damit sind bestimmte Rechtsfolgen verknüpft, wie zum Beispiel eine Rechtshilfebelehrung und die Möglichkeit, innerhalb bestimmter Fristen Rechtsschutz gegen die entsprechende Maßnahme in Anspruch zu nehmen.  ANDREJ REISIN

VON ANDREJ REISIN

Wer als minderjähriger Flüchtling ohne Eltern oder sonstige Begleitung in Deutschland ankommt, hat meist traumatische Erfahrungen und eine monatelange Flucht hinter sich. Für diese Minderjährigen sind daher die Kinder- und Jugendhilfe (und nicht die Ausländerbehörden) zuständig, das heißt sie werden in aller Regel vom Jugendamt in Obhut genommen. Zuständig ist jeweils die Kommune, wo ein Flüchtling sich erstmals bei den Behörden meldet oder aufgegriffen wird.

Doch die steigende Flüchtlingszahl geht in vielen Kommunen über die Grenze der Leistungsfähigkeit hinaus: Es fehlt an Platz und an Personal, die Aufnahmeverfahren ziehen sich und die Minderjährigen bleiben stellenweise sich selbst überlassen. So machten jüngst nordafrikanische Jugendliche Schlagzeilen, die auf dem Hamburger Kiez Freier beklaut haben sollen – und dafür in einem sogenannten „Racheakt“ von Schlägern aus dem Zuhältermilieu krankenhausreif geprügelt wurden.

Momentan nehmen zehn ausschließlich westdeutsche Großstädte etwa 60 Prozent aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auf, die ostdeutschen Bundesländer ohne Berlin dagegen zusammen nur zwei bis drei Prozent. Um diesem Problem zu begegnen, hat Bayern eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat eingebracht, wonach minderjährige Flüchtlinge nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, der den Lastenausgleich zwischen den Bundesländern regelt, flächendeckend verteilt werden sollen.

Allein Hamburg rechnet 2014 mit ungefähr 1.000 Neuaufnahmen bei bundesweit etwa 6.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Marcel Schweitzer, der Sprecher der Hamburger Sozialbehörde, sieht in der Umverteilung der Flüchtlinge daher eine Chance: „Völlig überfüllte Einrichtungen können nicht im Sinne des Kindeswohls sein“, so Schweitzer. Vielmehr zeige zum Beispiel der Fall vom Hamburger Kiez, dass es für bestimmte Jugendliche die Integrationschancen erhöhen könne, wenn sie an anderen Orten in wesentlich kleineren Gruppen intensiv betreut werden könnten.

Für Conni Gunsser vom Flüchtlingsrat Hamburg stellt die Verteilung keinesfalls eine Lösung dar: „Viele Jugendliche kommen gezielt an einen bestimmten Ort, weil sie dort bereits Freunde oder Bekannte haben oder es eine Community aus dem Herkunftsland gibt. Sie werden sich nicht einfach woanders hinbringen lassen, sondern wiederkommen oder abtauchen.“ Zudem sieht Gunsser die Frage der praktischen Umsetzung sehr kritisch: „Einem schwer traumatisierten Jugendlichen, der nach einer langen Odyssee in einem völlig fremden Land ankommt, können Sie nicht einfach eine Fahrkarte und Adresse in die Hand drücken und ihn zum Bahnhof schicken“, so Gunsser.

Diese Kritik wird von allen Flüchtlingsinitiativen und Verbänden nahezu einhellig geteilt. Der zuständige Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (B-UMF) bewertet die geplante Umverteilung klar als „Schwächung des Schutzes der Kinder und Jugendlichen“. Andere Experten bemängeln, dass es keineswegs unerheblich sei, um was für einen rechtlichen Vorgang es sich bei der Zuweisung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen handeln soll. Eine einfache Verwaltungsvorschrift, die Jugendämter anweist, minderjährige Flüchtlinge nach einem bestimmten Schlüssel zu verteilen, würde zum Beispiel den Rechtsschutz für die Flüchtlinge weitgehend außer Kraft setzen, da es keine Möglichkeit gibt, unmittelbar gegen Folgen von Verwaltungsvorschriften zu klagen (siehe Infobox).

Aber auch wenn die Verteilung über einen Verwaltungsakt geregelt wird, können die Rechte der minderjährigen Flüchtlinge verletzt werden. Denn ihnen steht nach der UN-Kinderrechtskonvention, dem Haager Kinderschutzübereinkommen, aber auch nach den Aufnahmerichtlinien der EU und dem deutschen Kinder-Jugendhilferecht (SGB VIII) besonderer Schutz zu: So ist stets vorrangig das Kindeswohl in Erwägung zu ziehen und der Anspruch auf Erziehung und Entwicklung zu erfüllen.

Volker Maria Hügel von der „Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender“ (GGUA) kritisiert daher, dass „das Interesse der Kinder und Jugendlichen von vornherein einem Verwaltungsinteresse untergeordnet wird“. Wer minderjährige Flüchtlinge aus „puren Lastenausgleichsgründen“ über das Bundesgebiet verstreue, der handle nicht im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes oder der UN-Kinderrechtskonvention. Dies könnte am Ende sogar dazu führen, dass ein mögliches Gesetz weder europarechts- noch verfassungskonform wäre.

Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) und seine Behörde sind dagegen zuversichtlich, dass noch im Dezember eine Gesetzesvorlage in den Bundesrat eingebracht werden kann. Behördensprecher Schweitzer ist sich sicher, auch in Zukunft dem Kindeswohl gerecht werden zu können: „Natürlich wird niemand schwer traumatisierte Jugendliche einfach in einen Zug setzen“, so Schweitzer. Aber die Umverteilung insgesamt sei im Interesse aller Beteiligten dringend notwendig.