KOMMENTAR
: Nicht in meinem Theater

Das Musical ist der Feind des Halbintellektuellen. Dabei kann es ein aufregendes Genre sein

So aber muss man annehmen, dass der Empfang von Subventionen notwendiger Ausweis künstlerischer Relevanz ist

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Musicals sind das, was man sich nicht ansieht, so lautet eine der letzten Gewissheiten der bürgerlichen Halbintellektuellen. Die haben nicht mehr viele parat, um so sicherer weiß man, und das generationenübergreifend, dass das Musical, wenn überhaupt, als Touristenfutter dienen kann.

Tourist und Musical sind der Inbegriff des Anderen im Kosmos jener Halbbildungsbürger, die sich aufgeschlossen geben, es aber selten sind. Keine Frage: Es gibt Musicals, die schlecht sind, sogar ziemlich viele, aber das erklärt nicht die Innigkeit einer Abneigung, die das gesamte Genre über Bord wirft.

Um ihrem Ursprung auf den Grund zu gehen, sollte man nach dem Verbindenden im Bild von Musical und Tourist forschen. Beide bewegen sich in den Augen ihrer Feinde im Feld des bloßen Vergnügens, das Musical belehrt nicht und dem heutigen Touristen fehlt die Ernsthaftigkeit des Bildungsreisenden.

Was sie ebenso gemeinsam haben, ist eine gewisse Naivität: Der staunende Tourist ist in seinem Erforschen des Unbekannten so kindlich wie eine Kunst, die zuallererst auf Gefühle setzt, auf Identifikation mit den Bühnenfiguren und die Hoffnung auf ein gutes Ende. Diese Naivität kann der Halbintellektuelle, so scheint es, schlecht ertragen.

Diese Kunst mag gelegentlich unterkomplex daherkommen. Aber eben jene Unterkomplexität wird gern von denen gegeißelt, die die Komplexität des Regietheaters theoretisch schätzen, praktisch aber selten dort zu finden sind. „Kommerziell“ schreien sie, als sei das per se das Aus jeder Debatte. Kommerziell ist die gesamte Popmusik, aber das hat ihr den Einzug ins Feuilleton nicht versperrt. So aber muss man annehmen, dass der Empfang von Subventionen notwendiger Ausweis künstlerischer Relevanz ist.

Egal, könnte man sagen, die Musicaltheater sind ohnehin voll, auch ohne den Segen der selbsternannten Geschmackssicheren. Trotzdem bleibt eine Irritation, wenn eben jene, die an anderen Stellen die Logik eines kulturellen Kanons verwerfen, ganz vorn beim Aussortieren sind. Es klingt ein unangenehmer Dünkel mit, ein Anklang, dass es sich beim Musical um Unterschichtskunst in der Tradition römischer Gladiatorenspiele handelt, eine Veranstaltung für Lemminge, die ruhig gestellt werden, nur eben nicht mehr vom Staat, sondern von findigen Privaten.

Noch einmal: Es gibt dumme Musicals, die ein Weltbild von betrüblicher Enge aufspannen. Aber es gibt auch andere. In den USA, dem gelobten Land des Genres, ist das Pulitzer-Preis-gekrönte Musical „Sunday in the Park with George“ eines der erfolgreichsten überhaupt. Die Idee dazu kam Stephen Sondheim, als er ein Bild des französischen Malers Seurat sah. Im Stück geht es um einen Künstler, der über der Arbeit an dem Bild seine Geliebte verliert, um den Kunstmarkt, um problematische Ehen. Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben – erzählt in Geschichten.

Kein Wunder, dass die Leute in Scharen ins Theater liefen. Kein Wunder, das in einem Land, dass Musicals für ein ernst zu nehmendes Genre hält, das Ganze zu einer Wundertüte im besten Sinn wird. Kein Wunder, dass gute Leute mit dabei sein wollen. Schauspielerinnen wie Lauren Bacall, die nicht für eine Film-, sondern für eine Musicalrolle ihren ersten Oscar bekam.

Das Musical kann ein aufregendes Feld sein, verspielt, packend, aber nicht belanglos. Aber wir werden kaum etwas davon mitbekommen, solange Selbstgerechte es mit territorialer Geste zum Nichtort erklären. Und die Touristen aus der Stadt jagen.