: Finnland tanzt die Nationalmusik
Beim jährlichen Tangofestival im finnischen Seinäjoki treffen sich die Finnen und tanzen ausgelassen auf der Straße. Die größten Helden des Festivals in Seinäjoki sind jedoch nicht die TänzerInnen, sondern die SängerInnen. Hier werden Stars gekürt
Tangomarkkinat (Tangofestival in Seinäjoki), Torikatu 15, FIN-60100 Seinäjoki, Tel. +358 6 4 20 11 11, Fax +358 6 4 20 11 50, info@tangomarikkinat.fi, www.tangomarkkinat.fi Buchtipp: M. A. Numminen: „Tango ist meine Leidenschaft“. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003 1995 wurde in Seinäjoki das Tangomuseum Olavi Virta eröffnet. Es ist nach einem der beliebtesten Tangosänger Finnlands benannt.
VON EDITH KRESTA UND RASSO KNOLLER
Seinäjoki ist völlig unspektakulär. Zumindest 51 Wochen im Jahr. Hauptstraße, Tankstelle, Bank, Einkaufsladen und Alko-Geschäft. Doch eine Woche im Jahr, dieses Jahr vom 4. bis 8. Juli, wird es neben Buenos Aires zur Welthauptstadt des Tangos. Des finnischen Tangos. 100.000 bis 150.000 Besucher aus ganz Finnland strömen dann in den Ort mit seinen 36.000 Einwohnern. Seinäjoki tanzt den Tango, denn „der Tango ist nun mal unsere Nationalmusik“, sagt der finnische Regisseur Aki Kaurismäki.
Die Hauptverkehrsstraße von Seinäjoki ist zum Tangofestival selbstverständlich gesperrt. Sie dient als öffentlicher Tanzboden. Auf der großen Bühne und auf kleinen Plätzen spielen die unterschiedlichsten Kapellen zum Tanz auf. Matti schiebt Päivi durch die tanzende Menge. Der Bauarbeiter aus Tampere hat sich für den Auftritt herausgeputzt: weiße Turnschuhe, hellblaue Socken, graue Shorts und blaues Hemd. Den Geschmack seiner Frau hat er offensichtlich getroffen. Zu ihren weißen Gesundheitssandalen, gelben Shorts und blauer Bluse trägt sie einen roten Filzhut mit aufreizenden blauen Stoffblumen. Matti und Päivi gehören – wie die meisten hier – zur Generation 45 plus. Gut, dass der finnische Tango keine wilden Ausfallschritte hat, denn dafür fehlt hier in der Menge der Platz. Wange an Wange verlieren sich Matti und Päivi unter den tanzenden Paaren.
Wer beim Tangofestival von Seinäjoki an geschlitzte Abendkleider, rote Pumps oder Frack denkt, liegt völlig falsch: Kurze Hosen, flache Sandalen mit Socken oder gleich die finnische Nationaltracht, der Trainingsanzug, sind die offizielle Kleiderordnung. Erotik, Eleganz und Passion kommen hier allenfalls innerlich zum Ausdruck. Auch im Tanzstil auf der Straße sucht man die argentinische Leidenschaft vergebens – getanzt wird im Stil des unkomplizierten Schiebers der 20er-Jahre, den man bevorzugt zu Marschmusik tanzte. Die Schrittfolge ist einfach und keine Frage der Technik. Doch auch bei dieser Art, den Tango zu tanzen, kommt man sich näher. Und die schüchternen, schweigsamen Finnen zeigen mit gefühlsgetränktem Tango rhythmische Hüft- und emotionale Seelenschwingungen.
Ulla und Olavi sind Vortänzer. Sie bieten kurze Anleitungen für die Straßentänzer zur Verfeinerung der lange eingeübten, manchmal auch festgefahrenen Schrittfolge. Beide nehmen aber auch an den nationalen Meisterschaften im nordischen Tango teil. Diese werden während des Festivals in Seinäjoki ausgetragen. Bei diesen Profis in der großen Festhalle am Ortsrand wird nicht nur geschoben, sondern gedreht, mit Ausfallschritt und schwierigen Figuren. Hier findet man sie, die eleganten Pumps und die geschlitzten Kleider. Hier wird der Kunst des Tangotanzens gefrönt: vor, vor, Wiegeschritt, rück, Seit, Schluss.
Die größten Helden des Festivals in Seinäjoki sind jedoch nicht die TänzerInnen, sondern die SängerInnen. In einem landesweit ausgestrahlten Wettbewerb werden jedes Jahr beim Tangofestival in Seinäjoki Tangokönigin und -könig gesucht. 2006 gewannen Marko Lämsä und Elina Vettenranta. Im Ausland wird man von ihnen nie hören, in Finnland sind sie automatisch Volkshelden. Ihre Namen bleiben für lange Zeit im Gedächtnis haften. Gar nicht zu reden von den rasant steigenden Umsätzen, den ihre Platten machen.
Der Tango ist traurig, schwermütig. Mag sein, dass er deshalb die Finnen so berührt, die gemeinhin als verschlossen und schweigsam gelten. Die meisten Texte handeln vom Ende: vom Ende einer Liebe, des Sommers oder gar des Lebens. Glück kommt allenfalls im Rückblick auf eine verflossene Liebe vor. Der Tango als Ventil für Gefühlsstau und ungelebtes Leben? Auf den Straßen von Seinäjoki geht es jedenfalls ausgelassen zu.
Den Tango gibt es in Finnland erst seit knapp einhundert Jahren. Musikwissenschaftler haben sogar das genaue Datum herausgefunden, an dem er nach Finnland kam – es war der Sommer 1913. Damals trat ein dänisches Tanzpaar in einem populären Helsinkier Restaurant auf und betörte mit einem verführerischen und bis dahin unbekannten Tanz das Publikum. Den Finnen gefiel dieser Tanz so gut, dass die beiden Dänen von da an viele Jahre lang jeden Sommer in Helsinki gastierten. Zunächst aber blieb der Tango ein Tanz der Oberschicht und der Intellektuellen. Für den Mann auf der Straße war der südamerikanische Tanz zu verrucht. Erst in den Dreißigerjahren begannen sich auch die „einfachen Leute“ für die fremde Musik zu interessieren. Den endgültigen Durchbruch feierte der Tango aber erst im Zweiten Weltkrieg. Viele der Tangokomponisten dienten damals in der Armee und schrieben ihre Stücke in den Schützengräben an der Front. In dieser Umgebung veränderte der Tango seinen musikalischen Charakter; beeinflusst von russischen Romanzen und deutscher Marschmusik, wurde er „trauriger“. Die frühen 60er-Jahre bedeuteten den Durchbruch vor allem für den Komponisten und Musiker Unto Mononen. Sein Tango „Satumaa“ (Märchenland), interpretiert von Reijo Taipale, ist fast zur Nationalhymne Finnlands geworden. Viele noch heute berühmte Sänger begannen ihre Karriere als Tangosänger, so zum Beispiel der „Evergreen“ Eino Grön und viele andere. Der Star Unto Mononen lebte übrigens ein echtes Tangoschicksal. Nach einem langen Kampf gegen den Alkohol nahm er sich 1968 das Leben.
Nach einer kleinen Krise in den Siebzigern erfreut sich der Tango seit Mitte der Achtzigerjahre wieder großer Popularität. Im Sommer 1985 veranstaltete die Gemeinde Seinäjoki erstmals ein Tangofestival. Das größte Festival Finnlands ist auch eine Partnerbörse. Begegnung beim Tango. Der dazu konsumierte Alkohol erleichtert sie. Kleine Gruppen von Frauen und Männern stehen am Straßenrand in Seinäjoki. Bereit zur Kontaktaufnahme. Kontakt zunächst nur für zwei Tanzrunden. Denn die finnische Tanztradition verlangt, dass man danach den Partner wechselt. Aber keiner verbietet es, im Laufe eines Tages immer wieder dieselbe Person zum Tanz zu bitten.
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