Emotion in Illusionsbaracken

Heute eröffnet in Hamburgs Einwandererstadtteil Veddel nach Bremerhaven das zweite deutsche Auswanderermuseum – die kommerzielle „Ballinstadt“. Authentizität bietet sie nicht, dafür sprechende Puppen und Fotos sturmumtoster Überfahrten zum gelobten Kontinent

Die Baukosten für die Ballinstadt sollen bei 8,1 Millionen Euro liegen. Die Stadt Hamburg, die ursprünglich nur 300.000 Euro tragen wollte, hat inzwischen 5,1 Millionen zugesagt. Der Rest kommt von privaten Sponsoren. Betreiber ist die Leisure Work Group (LWG). Das Unternehmen konzipierte auch das Sylt-Aquarium in Westerland und die Biosphäre Potsdam, die schon nach weniger als einem Jahr mit öffentlichen Mitteln vor dem Konkurs gerettet werden musste. Die LWG hat der Stadt zugesichert, die Ballinstadt ohne laufende Zuschüsse zu betreiben. Dafür müssten jährlich 150.000 Besucher kommen. Geht das Museum Konkurs, muss die Stadt einspringen – oder ihre Fünf-Millionen-Investition abschreiben. JANK

VON JAN STERNBERG

Die Menschen, mit denen die Hamburg-Amerika-Linie ihr Geld verdiente, waren arm, sie waren fremd – aber sie waren viele, und sie brachten sichere Einnahmen. Die Auswandererstadt auf der Hamburger Elbinsel Veddel, die der Reeder Albert Ballin zwischen 1901 und 1907 errichten ließ, konnte bis zu 5.000 Passagiere bis zur Abfahrt ihres Schiffs beherbergen. Sie galt mit ihren 30 Gebäuden, zu denen eine Kirche, eine Synagoge, zwei Hotels und Desinfektions-Baracken gehörten, als weltweit vorbildlich. Auch den koscheren Speisesaal konnten die Werber in Osteuropa hervorheben und die vor russischen Pogromen fliehenden Juden überzeugen, ihre Notgroschen zum Kauf von Amerika-Passagen über Hamburg statt über Bremen oder Antwerpen auszugeben. Diese Kundschaft war in Deutschland gesucht. Denn deutsche Auswanderer gab es ab 1890 weniger als zuvor, und man brauchte die osteuropäische „New Immigration“, um den Schiffsraum der Ozeandampfer zu füllen.

Die Werbung in Osteuropa hatte Erfolg: Etliche orientierten sich nach Hamburg. Bis 1892 mussten Auswanderer auf der Veddel allerdings in privaten Logierhäusern auf die Einschiffung warten. Die dortigen Wirte waren bald als Wucherer verschrieen. Das war schlecht fürs Geschäft der Reedereien. Dann aber wurden die Auswandererhallen am Amerika-Kai gebaut. Als im selben Jahr die Cholera in Hamburg ausbrach, verdächtigte man die Fremden aus dem Osten. Ballins Auswandererstadt auf der Veddel schaffte die Durchreisenden aus dem Blick und nahm so sozialen Sprengstoff weg, wollten doch die Hamburger mit den oft verarmten Fremden nichts zu tun haben. Parallel sicherte der stadtferne Standort das Geschäft der Reedereien mit den Auswanderern.

Heute leben dort, zwischen Bahnstrecke, Hafen, Autobahn und Kupferhütte, in verwitterten Backstein-Blocks aus der Nachkriegszeit wiederum viele Migranten. Und wer weiß in den besseren Hamburger Vierteln schon, dass die Veddel nur ganze zwei S-Bahn-Stationen vom Hauptbahnhof entfernt und ab morgen auch per Hafenfähre zu erreichen ist?

Jetzt soll sie touristischer Magnet werden, gerne auch für Amerikaner, die gründlich nach ihren Wurzeln suchen. Lockmittel sind drei nachgebaute Auswanderer-Baracken. Ballins Stadt war bis 1934 in Betrieb und wurde im Krieg größtenteils zerstört. Heute eröffnet hier das privat betriebene Erlebnismuseum „Ballinstadt“. Ab morgen ist es öffentlich zugänglich. Zwölf Millionen Euro kostet der Neubau samt Grünfläche und Anleger, neun Millionen kommen von der Stadt, drei Millionen von Sponsoren.

Gleich neben der Kasse, hinter der das Bild der alten Empfangshalle mit Ballins berühmtem Satz „Mein Feld ist die Welt“ hängt, sind zehn Computer-Arbeitsplätze aufgebaut. Hier können Besucher in den Passagierlisten recherchieren. Fünf Millionen Namen von Auswanderern, die zwischen 1850 und 1934 über Hamburg ausreisten, sind überliefert; in Häfen wie Bremerhaven und Liverpool ist das nicht der Fall.

Diese Listen sind das Pfund, mit dem Hamburg wuchern kann, denn das erste Auswanderermuseum der Region ist dies nicht. In Bremerhaven steht bereits seit zwei Jahren das ebenfalls privat betriebene „Deutsche Auswandererhaus“, ein ehrgeiziger und erfolgreicher Neubau. 400.000 Besucher kamen seit der Eröffnung, im Mai dieses Jahres erhielt das Haus zudem den „European Museum of the Year Award“, den europäischen Museums-Oscar.

Dagegen muss die Ballinstadt erst einmal ankommen. Mit 150.000 Besuchern pro Jahr rechnet Volker Reimers. Der 39-Jährige ist Geschäftsführer der „Leisure Work Group“: Die Firma hat Ausstellungen für die Potsdamer Biosphäre entwickelt und betreibt das Sylt-Aquarium.

Die Ballinstadt ist Reimers’ erster Versuch, nicht mit Natur, sondern mit Geschichte Geld zu verdienen. Und Geschichte heißt für ihn: Emotion und Kostümierung. Anstelle eines architektonisch offensiven Neubaus wie in Bremerhaven versucht Hamburg mit dem Original zu punkten – doch belegen kann Reimers das nicht. Von der letzten Baracke, die lange ein portugiesisches Restaurant beherbergte, war nur noch die Rückwand im Original erhalten, erzählt Museumsdirektorin Ursula Wöst.

Die 40-Jährige zeigt einige verwitterte Backsteine, die man in den neuen Pavillon eingemauert hat. „Wenn die neuen Steine etwas Patina haben, sieht man den Unterschied nicht mehr“, sagt sie. Man will also die Illusion, doch gerade die funktioniert nicht. Drei nachgebaute Baracken, dazu drei weitere in angedeuteten Umrissen in der umgebenden Grünfläche reichen nicht für einen Eindruck der alten Anlage; den erzeugt höchstens das in den Boden eingelassene Modell im Eingangsbereich des Museums.

Drinnen sollen es Puppen und Schauspielszenen menscheln lassen. „Hallo“, tönt es aus dem Bauch der Frau im schwarzen Kittel, die im ersten Ausstellungsraum auf einer Bank sitzt. Ursula Wöst fährt erschrocken zurück. Sie hat einen Moment vergessen, dass die Puppen hier sprechen. Die Figuren verkörpern Auswanderer, die erzählen, was sie zum Verlassen ihrer Heimat bewog und ob sie im neuen Land Erfolg hatten oder scheiterten.

Solche Puppen kennt man schon aus Bremerhaven. Dort stehen sie an einem Kai vor der nachgebauten Schiffswand des Dampfers „Lahn“. Auch Hamburg hat ein Schiff, einen Bug mit großen Löchern, in denen in Schreibschrift Schlagworte stehen: Unsicherheit und Hoffnung. Im Schiffsbug laufen derweil Schwarzweiß-Filme einer stürmischen Überfahrt.

Mit der Ballinstadt-Synagoge ließ sich bei Juden, die vor russischen Pogromen flohen, gut für eine Überfahrt ab Hamburg werben Die Ballinstadt setzt auf Inszenierung und berücksichtigt die heutige Situation auf der Veddel nur im Nebensatz

Hinter einer vergitterten Freiheitsstatue öffnet sich dann die neue Welt. Ein Pferd mit nickendem Kopf steht vor dem Foto eines New Yorker Delikatessenladens – mit chinesischem Namen. Dass sein Inhaber über Hamburg auswanderte, ist höchst unwahrscheinlich. Ein deutscher Buchladen soll zudem auf die ethnischen Parallelgesellschaften im Einwandererland hinweisen.

Am Schluss der Schau fahren Koffer auf einem Flughafen-Laufband, bedruckt mit Vorurteilen aller Epochen. Es folgen ein paar Zitate des Migrationsforschers Klaus J. Bade über Wanderungen als Konstanten der Menschheitsgeschichte; stärker ins Detail, in die Kontroverse, in die Aktualität will die Ballinstadt nicht gehen.

Historisch ist 1934 Schluss; ein kurzer Verweis auf die Irrfahrt des Hapag-Schiffs „St. Louis“ mit jüdischen deutschen Emigranten 1939 kommt als moralischer Sicherheitsgurt hinzu. Zwischendrin sah man Albert Ballin im Büro, einen preußischen Grenzer am Schlagbaum, kolorierte Fotos von der Ankunft der Sonderzüge auf der Veddel und drei Biographien: ein erfolgreicher Goldsucher in Kalifornien, der aus Brandenburg stammt, eine in Ellis Island Gescheiterte, die der Prostitution verdächtigt wurde, und eine junge Frau, die sich auf der Überfahrt in den Schiffssteward verliebte, zurückfuhr und noch heute auf der Veddel lebt. Hier ist aus Ballins multikultureller Geschäftsidee wieder eine deutsch-amerikanische Beziehungsgeschichte geworden.

Fazit: Hamburg hat am historischen Ort die Chance verpasst, es besser zu machen als Bremerhaven: Im dortigen Auswandererhaus wird ähnlich inszeniert. Mit 3.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche – 1.300 mehr als in Hamburg – ist vieles großzügiger. Es gibt mehr Exponate, es gibt mehr informative Spielereien im Detail. Und auch ein kommerzielles Museum muss nicht konsensfähig weichgespült agieren. Allerdings will auch Bremerhavens Direktorin Simone Eick nicht die gut zahlenden Kegelgruppen durch Berichte über Interkulturalität und Integration verschrecken.

Und auch die Hamburger Ballinstadt ignoriert, aus politischem Geschick, die Situation auf der Veddel nicht ganz: In der dritten Baracke zeigt hinter den inszenierten Schlafstätten der Auswanderer eine Fotocollage heutige Veddeler Schüler vor historischen Auswanderern. „Auf dieser Schule haben die Schüler 23 unterschiedliche Muttersprachen“, erzählt Geschäftsführer Reimers begeistert. „Das ist doch toll!“ Und überhaupt habe er auf der Veddel „nur nette Menschen kennengelernt“. So kann es klingen, wenn Hamburg eine neue Welt entdeckt.

Infos unter www.ballinstadt.de