Streiken hat Verfassungsrang

In Frankreich wird oft gestreikt. Hier hat man Verständnis für Deutsche im Ausstand

PARIS taz ■ „Recht haben sie“, sagt der Pariser Zeitungsverkäufer, gefragt, was er vom Streik der deutschen Lokführer hält. Auch die pensionierte Lehrerin meint: „Jeder muss sein Beefsteak verteidigen.“ Und der Ingenieur zuckt die Schultern: „Warum sollten die Eisenbahner jenseits des Rheins anders sein? Deutschland ist ein ganz normales Land.“

Mit Streiks, vor allem im Verkehrswesen, kennen sich die Franzosen aus. Zwar ist die Zahl der Streiktage in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Aber Ausstände gehören einfach dazu. Die meisten dauern nur einen Tag, manche mehrere Wochen. Wieder andere werden groß angekündigt, dann aber nur so mäßig befolgt, dass sie kaum bemerkt werden. Streiks sind schlicht unberechenbar. Sie können national sein, regional oder punktuell. Mitunter kommt es vor, dass die FahrerInnen einer einzigen Buslinie streiken, weil einer ihrer Kollegen im Dienst zusammengeschlagen wurde.

Wenn ein Streik im öffentlichen Verkehr angekündigt ist, stehen die BewohnerInnen der Vorstädte, die weite Wege zur Arbeit zurücklegen müssen, Stunden früher auf. Manchmal kommen sie dann viel zu früh zur Arbeit, manchmal erreichen sie ihren Arbeitsplatz überhaupt nicht – das hängt ganz davon ab, wie hoch die Streikbeteiligung ist.

Zwar müssen die Gewerkschaften ihre Absicht, zu streiken, fünf Tage vorher ankündigen. Aber das Streikrecht ist individuell. Und es hat Verfassungsrang – seit 1946 steht es in der Präambel der Verfassung. Wer streiken will, kann dem Aufruf seiner Gewerkschaft auch dann folgen, wenn sämtliche anderen KollegInnen weiterarbeiten. Selbst jene, die das Recht dazu eigentlich nicht haben – Polizisten, Gefängnispersonal und Luftfahrtkontrolleure –, nehmen es gelegentlich in Anspruch. Den Preis für den Ausstand müssen die Beschäftigten selbst zahlen: Streiktage sind unbezahlte Tage, große Gewerkschaften mit vollen Kassen gibt es nicht.

Die Franzosen haben die Erfahrung gemacht, dass die großen Fortschritte im Sozial- und Arbeitsrecht mit Streiks erkämpft wurden: 1936 etwa erstreikten die Beschäftigten die 40-Stunden-Woche und zwei bezahlte Urlaubswochen. 1968 erkämpften sie die Anerkennung der Gewerkschaften im Betrieb und eine 30-prozentige Erhöhung des Mindestlohns. Und 1995 verhinderten sie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.

Den Patrons und der französischen Rechten ist das Streikrecht seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge. Mit Präsident Nicolas Sarkozy hoffen sie jetzt auf Revanche. Sarkozy will – noch in diesem Sommer – das Streikrecht einschränken: Künftig sollen sich Streikwillige zwei Tage vorher zu erkennen geben. Und eine Woche nach Beginn eines Streiks soll eine anonyme Urabstimmung über dessen Fortsetzung stattfinden. DOROTHEA HAHN