: Auf der dunklen Seite des Mondes
LEGENDE Eine Begegnung mit Laurie Anderson
VON GABY SOHL
Sie mag das Gefühl, elektronische Geräte in den Mund zu nehmen. „Die Technik überträgt die Vibrationen der Geige direkt in meinen Körper. Ich wollte immer singen – wie eine Geige“, sagt Laurie Anderson. Die inzwischen 64-Jährige hat mit fünf Jahren begonnen, die klassische Violine zu spielen. Vor Kurzem präsentierte sie in der Akademie Hofgeismar Einblicke in den Arbeitsprozess ihrer Video- und Performancekunst. „Laurie Anderson – eine Pionierin“ nannte das documenta-Archiv in Kassel die Tagung. Also Gelegenheit, mit Laurie Anderson einen Lunch zu nehmen. Gelegenheit, mal wieder über Laurie Anderson zu schreiben. Schön.
Schon in den Achtzigern wurde sie berühmt mit einem selbst gebauten elektronischen Stimmverzerrer, der sie plötzlich hundert Jahre älter, zum Androiden oder schlicht zum Mann machte. Das erzählende „Ich“ der singenden Laurie Anderson ist eine schillernde Bühnenpersona, natürlich nicht identisch mit der realen Künstlerin, seit mehr als dreißig Jahren zu Hause in einem Loft mit Tonstudio in Lower Manhattan, New York. „As:If“ nannte sie ihre allererste Performance.
Ständig als „lebende Performance-Legende“ herumzulaufen, hat sie bald gelangweilt. „Ich war es leid, immer nur Laurie Anderson zu sein. Ewig die gleichen Fragen! Das ist zu viel für eine Person. Ich konnte mir selbst nicht mehr zuhören.“ Also hat sie sich einen Klon gebaut. Einen kleinen Mann fürs Grobe. Ihr echter Ehemann – noch eine Legende: der Musiker Lou Reed – hat den Klon auf den Namen Fenway Bergamot getauft. Fenway ist ein ziemlich arroganter Knochen. Er spricht in Zeitlupe, roboterähnlich, melancholisch. Es ist und bleibt Laurie Andersons Stimme, klingt nur, als säße Mister Bergamot in einem kleinen Raumschiff und trauere aus vier Lichtjahren Entfernung über den weltumspannenden Irrsinn auf unserem Planeten.
Anderson war „Artist in Residence“, bei der Nasa. Die erste – und leider auch die letzte. Im Jahr 2004 klingelte ihr Telefon in New York und eine echte, unverzerrte Männerstimme sagte: „Hello, this is Nasa calling …“
Sie hat sofort aufgelegt, gedacht, irgendein Fan hätte ihren größten Traum entdeckt. Sie sollte aber tatsächlich der erste künstlerische Bühnenmultiplikator für die technologischen Wunder der US-Raumfahrt werden. Und was hat sie daraus gemacht? „Ein Gedicht.“ „Ein Gedicht? Über uns?“ Da fiel den Nasa-Technikern alles aus dem Gesicht.
Anderson selbst war entsetzt, dass es Nasa-Pläne gegeben hatte, noch unter Kennedy, zu Zeiten der Kubakrise, die amerikanische Raumfahrttechnik mit neuen Nuklearexperimenten im ganz großen Stil zu exportieren – auf die dunkle Seite des Mondes! Öffentlich darüber geredet wurde erst 2003, kurz vor ihrem eigenen Nasa-Stipendium. „The End of the Moon“ nennt Anderson ihre lyrische Performance. Man hatte ihr alle künstlerischen Freiheiten zugesichert. Der US-Kongress allerdings regte sich auf – über die 20.000 Dollar Honorar, die aus dem 2004 immerhin 15,1 Milliarden Dollar schweren Budget der Nasa „an eine Bühnenfrau“ fließen sollten. Steuergelder für Performance-Kunst?! Never again.
Hello Nasa, this is taz calling: Wohin habt ihr „The End of the Moon“ gebeamt? Warum ist diese Performance bis heute nicht zu sehen auf eurer Nasa-Universums-Website?
Bert Ulrich, Nasa Arts Programme: „Diese Performance ist nicht auf unserer Website, weil sie da nie drauf sollte. Laurie hat eine Welttournee gemacht, das war’s. Tut mir leid, aber ich muss jetzt los, nach Florida – Raketenstart!“ Die Nasa hat große Pläne, erzählt Laurie Anderson in ihrer neuen Performance „Delusion“: „In 5.000 Jahren soll der ganze radioaktive Müll, das ganze Plastik, das sich nicht auflöst, auf den Mond geschafft werden. Damit die Erde sich erholen kann. Von uns.“
In 10.000 Jahren sollen die Nachkommen „von uns“ zum Mars geschossen werden.
Pause. Mittagessen. Noch ein bisschen Salat, Laurie? Und jetzt im Ernst: Diese Nasa-Pläne sind doch vollkommen verrückt!
„Natürlich ist das verrückt“, sagt sie. „Aber diese Leute glauben daran. Sie arbeiten daran.“
Leben wir also im Zeitalter der kosmischen Wahngebilde? Ist „Delusion“ jetzt unser 10.000-Jahres-Plan als staatlich verordneter Geisteszustand? „Wer heute glaubt, nicht verrückt zu sein, hat wirklich ein Problem mit seiner geistigen Gesundheit.“ Das sagt sie ruhig und gelassen, ein bisschen traurig, aber auch so, als hätten tatsächlich alle keine Tassen mehr im Schrank.
Die neue Performance „Delusion“ halten manche für sentimental, zu privatistisch. „Sentimental?“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr Blick wird kühl. Hello, Mr Fenway Bergamot! „Wenn man sich auf diesen einen Aspekt konzentrieren möchte … Die Storys haben mehrere Bedeutungsebenen.“
In der Mitte des Konzerts stirbt ihre Mutter. Als Laurie Anderson beginnt, die Geschichte vom Tod ihrer Mutter zu erzählen, steigen einige aus, blicken fast verbittert auf die Bühne – so ein Schmonz! Sie hat ihre Mutter also nicht geliebt und die sie auch nicht, nicht mal ein klitzekleines bisschen. Und? Andere im Publikum, meist Frauen, reiben sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln.
In Hofgeismar erzählt Laurie Anderson mehr von ihrer realen Mutter: „Sie war eine Missionarin. Baptistin. Sie ist bis nach Japan gewandert, um den Japanern die Hymnen der heiligen Botschaft vorzusingen. Auf Englisch natürlich. Sie sprach kein einziges Wort Japanisch.“
Den Rest der Zeit verbrachte sie mit Kinderkriegen. Acht kleine Andersons. Die Performance-Legende Laurie: Nummer zwei. Sie hat in vielen Ländern ihre Texte in der fremden Sprache auswendig gelernt. Eine Bildschirmübersetzung in der Landessprache läuft immer mit. Der Horror vor der ferngesteuerten, überheblichen Missionarshaltung ihrer Mutter hat seine Spuren hinterlassen: „Sie ist immer da, da hinten, in meinem Rücken.“
Und dann erzählt sie eine sehr persönliche Geschichte: „Ich musste ständig um Aufmerksamkeit kämpfen in meiner Familie. Und ich wollte Aufmerksamkeit, viel sogar. Eines Tages waren wir am Swimmingpool und da gab’s ein Sprungbrett. Ich hab gedacht: Wenn ich da jetzt runterspringe und einen richtig tollen Flipflop hinlege … dann werden alle gucken! Und ich bin gesprungen, und es war ein toller Flipflop – und … rrums!“ Sie schlägt mit der rechten Hand auf ihre Stuhllehne. „Ich bin auf dem Betonrand des Pools gelandet. Ich hab den Pool verfehlt.“ Pause. „Ich habe mir das Rückgrat gebrochen.“
Sie hebt die Hand, jetzt ganz ohne Geigenbogen, keine Begleitmusik. „Ich war zwölf Jahre alt. Ich kam ins Kinderkrankenhaus, auf die Intensivstation mit den schwer verletzten Kindern. Und manchmal kehren diese Geräusche zu mir zurück. Ich höre die Schreie. Da waren Kinder mit schwersten Verbrennungen, sie lagen in Rotisserien, großen Drahtkörben. Sie wurden ständig gedreht und gewendet, weil sie unglaubliche Schmerzen hatten. Es waren die Schreie von sterbenden Kindern.“
Sie spricht ruhig, ohne Pathos. Dann hebt sie den Schock von ihrem Tagungspublikum, lächelt: „Tja, und dann kam dieser Doktor! Er sagte: Du wirst nie wieder gehen können. Und ich hab ihn angeguckt und gedacht: Der trägt einen weißen Kittel, aber das kann doch kein echter Doktor sein! Wie kann er so was sagen? Natürlich werd ich wieder gehen! Aber selbstverständlich!“
Erleichtertes Lachen breitet sich aus – bravo, Trauma transponiert! Ihr Gesicht bleibt unbewegt: „Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich wieder richtig laufen konnte. Zwei Jahre.“
Wäre diese Geschichte ein Teil ihrer Shows, jetzt würde „Only an expert“ gespielt, das eingängigste Lied ihrer neuen CD „Homeland“, eine Persiflage auf die ewige Litanei, dass wir für alles und jedes einen Experten brauchen.
Was aber wäre passiert, wenn sie von diesem Unglücksunfall am Anfang ihrer Karriere gesprochen hätte? Wäre sie in der Frida-Kahlo-Heilig-Oh-Schauder-Steh-mir-bei-Schublade gelandet? Ihre Avantgardekunst – ertränkt mit voyeuristischem Mitleid und sprachlosem Staunen über „solch ein Wunder“?!
Die Bühnenwelt der Laurie Anderson, ihren eigenen Kosmos aus Naturverbundenheit und Technologiefaszination, den betrachtet, wer diese Geschichte nun kennt, vielleicht noch einmal neu: all die „Strange Angels“, ihre fantastische Willenskraft und unzähmbare Neugier – vieles lässt sich, mit dem Wissen um dieses klug gewahrte Geheimnis, durchaus auch lesen als transzendiertes Trauma. Nur eine Lesart unter vielen, gerettet in die Magie der Theaterkunst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen