Versuch, den Horizont zu beschreiben, Nr. 3

Der Horizont auf dem Fernsehturm, 365 Meter über Berlin, ist für 11 Euro zu haben. Den Horizont aus der Perspektive einer Ameise auf der Wiese vor dem Turm gibt es dagegen für lau. Hier, tief unten, an der Scheitellinie zwischen Boden und Luft, ist der Horizont grau, grün und braun. Ständig betreten ihn Füße. Und er stinkt. Hundekot. In der Nähe blüht auf trockenem Rasen ein Löwenzahn. Summend fliegt eine Biene vorbei. Neben einer Frau mit langer Brillenkette und Buch steht eine leere Plastikflasche mit blauem Etikett. Es ist das einzige Blau weit und breit. In der Ferne rauscht metallisch eine Tram. Zwei Frauen und ein kleines Mädchen nehmen plötzlich den ganzen Horizont ein. Die eine zeigt einen laminierten Zettel: „Bitte geben Sie mir Geld! Ich habe das Problem“, steht darauf. Dann fällt ihr auf, dass der Text eins zu eins abgeschrieben wird. Sie zieht ihn weg und geht mit den zwei anderen weiter. Jetzt kommt ein junger Mann mit Klemmmappe. Er zeigt ein DIN-A4-Papier, auf dem „Schenkungsverein Taub-Stumme“ steht. Der Mann schreibt auf, er heiße Alex. Alex am Alex.

Der Boden ist ruhig. Der Horizont unruhig. „Du hast Dreck im Gesicht“, sagt ein junger Mann mit sauberem Shirt. Er sitzt auf einem Stein und beobachtet die Menschen auf dem Alexanderplatz. Vor einigen Minuten habe er ein Ticket für die Fahrt auf den Turm verschenkt. Er könne auf dem Platz keinen Horizont erkennen, sagt er. JEANETTE TUST