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Eine Stadt im Dienst

FUSION Soldaten im Stadtrat, im Fitnessstudio, am Strand. In Wilhelmshaven treffen sich Meer und Militär. Kein anderer deutscher Ort hängt so sehr an der Marine. Jetzt sorgt sich der Bürgermeister. Ein Rundgang

Sorgen an der See

Die Stadt: 1853 kaufte Preußen vom Großherzogtum Oldenburg ein Stück Land am Jadebusen, einer Bucht an der Nordsee, um dort einen Hafen für die Marine zu bauen. 1869 gründete König Wilhelm I. die Stadt. Heute leben dort gut 80.000 Menschen.

Die Marine: Die deutschen Seestreitkräfte beschäftigen mehr als 23.000 Soldaten. Der größte Marinestützpunkt der Bundeswehr ist Wilhelmshaven. Weitere Stützpunkte sind in Kiel, Eckernförde und Warnemünde.

Die Angst: Das Verteidigungsministerium will die Zahl der Soldaten von 220.000 auf rund 180.000 reduzieren, die Zahl der zivilen Mitarbeiter von 76.000 auf 55.000. Wilhelmshavens Oberbürgermeister Eberhard Menzel, SPD, fürchtet, das dortige Marinearsenal, die Werft der Marine, auf der 1.000 Menschen arbeiten, könnte geschlossen werden. Das Ministerium dementiert eine solche Schließung.

AUS WILHELMSHAVEN FELIX ZIMMERMANN (TEXT) UND KAY MICHALAK (FOTOS)

An diesem Montagvormittag im Juli ist Wilhelmshaven ein Ort der Tränen. Weil es mal wieder ein Tag ist, an dem die Marine im Mittelpunkt steht. Auf dem Stützpunkt am Heppenser Groden schaukelt die Fregatte „Bayern“ im Nordseewasser. Ein Tag des Abschieds. Um zehn Uhr wird das Schiff ablegen und sich mit 227 Soldaten und 13 Soldatinnen ans Horn von Afrika aufmachen. EU-Mission „Atalanta“, Piratenbekämpfung an einer der gefährlichsten Wasserstraßen der Welt. Die „Bayern“ wird ab August das Flaggschiff der Mission sein. Frauen und ein paar Männer, Kinder und Eltern bleiben winkend am Kai zurück.

Es ist einer der Momente, in denen sich in der Provinzstadt Wilhelmshaven Weltpolitik ereignet. Am einen Ende der Erde sollen Piraten bekämpft werden, und hier, am Rande des Niedersächsischen Wattenmeers, legt das Schiff ab, das für ein halbes Jahr den Einsatz koordiniert. Während Soldaten letztes Material an Bord tragen, spielt sich vor einem weißen Bus das Musikkorps ein. Trompetentöne wehen zum Schiff. Abends zeigt die „Tagesschau“ einen Einspieler aus Wilhelmshaven.

Die Stadt spielt an diesem Vormittag ihre Rolle. Sie wurde ihr 1869 zugeteilt, als sich Preußen auf einem gekauften Stück Land einen Kriegshafen an der Nordsee baute. Seitdem ist Wilhelmshaven die Stadt der Marine, in ihrem Herzen trägt sie Blau. Kein zweiter deutscher Ort ist so sehr verklammert mit der Bundeswehr, kein zweiter Ort ist je so stark mit der Seestreitkraft verknüpft gewesen. Erst war der Hafen da, dann kam die Stadt.

Die Marine garantiert Jobs, und sie bringt Leid

9.300 Soldaten und Zivilisten arbeiten auf dem größten Stützpunkt der Bundesmarine, dem zweitgrößten Standort der Bundeswehr. Rechnet man die Angehörigen hinzu, sind von Wilhelmshavens 80.000 Einwohnern 20.000 wegen der Marine dort. Soldaten sitzen im Stadtrat, erhalten Ermäßigung im Fitnesscenter am Bahnhof. Und dort, wo in anderen Städten wohl das Rathaus stünde, mittendrin auf einem großen Platz, repariert die Marine im Marinearsenal ihre Schiffe. In einem riesigen Wasserbecken, das wie ein blaues Loch im Stadtzentrum liegt.

So viel Bundeswehr in der Stadt, das ist einerseits: ein Standortfaktor, eine Arbeitsplatzgarantie im Nirgendwo. Andererseits heißt es: Leid, Verwundbarkeit. Wo Marine ist, kommt im Krieg die Zerstörung, dann wird eine Stadt zum strategischen Punkt, den es auszulöschen gilt. Zweimal ist das Wilhelmshaven widerfahren. Zweimal stand die Stadt wieder auf, schüttelte die Trümmer ab und hisste die Fahne der Marine, zuletzt 1956 mit der Gründung der Bundeswehr. Als hätten die Wilhelmshavener gedacht: Ohne Marineblau geht es nicht.

Wilhelmshaven schleppt diese Verklammerung mit seiner militärischen Keimzelle bis heute mit sich herum. Es ist wie mit einer Kneipe, die nur ein paar Stammkunden hat. Wenn die schwächeln, schwächelt der Laden mit. Ein ständiges Auf und Ab ist es über die Jahrzehnte gewesen, man kann es vergleichen mit der Lage der Stadt am Jadebusen: Wenn die Nordsee ihr Wasser in diesen Annex drückt, der aussieht wie ein ausgebeulter Seesack, dann ist alles gut, dann gehen die Leute baden. Wenn das Wasser abfließt, ist es gefährlich, der Ebbestrom kann Menschen mit fortreißen.

Genau diese Verwobenheit mit der Marine ist es, die Eberhard Menzel Sorgen bereitet. Wobei: Sorgen würde er es nicht nennen, er sagt: „Wir machen uns Gedanken.“

Menzel, graue Jacke, sandfarbene Hose, sanfter Blick, lächelt meist, wenn er spricht. Er ist seit bald 25 Jahren Oberbürgermeister der Stadt, im Herbst muss er in Ruhestand gehen. Er ist dann 66 Jahre alt, zu alt für dieses Amt. So sieht es die Niedersächsische Gemeindeordnung vor. Aber er ist noch voll dabei, wenn es um seine Stadt geht. Am Tag zuvor hatte er eine Augenoperation, die Ärzte haben ihm Ruhe verordnet, doch er ist gekommen, mit Augenklappe, aber klarem Blick für das, was jetzt wichtig ist.

Menzel hat eine Broschüre auf den holzgeschnitzten Besprechungstisch seines Amtszimmers im zweiten Stock des Rathauses gelegt. Ein mächtiger Bau aus dunklem Klinker, der da seit 1929 steht wie eine Burg, mit einem viereckigen Turm genau in der Mitte. Er sieht aus wie ein Ausrufezeichen, aber das täuscht. Denn im Inneren fragt man sich schon, was sicher ist in Zeiten, in denen das Verteidigungsministerium die Bundeswehrstandorte überprüft, weil gespart werden muss. „Wilhelmshaven – Ein starkes Stück Marine“ heißt die in Blau gehaltene Broschüre, fast beschwörend. Menzel nennt sie „Positionspapier“, man könnte sie aber ebenso gut auch als Kampfschrift bezeichnen: Es geht um die Zukunft Wilhelmshavens. Sie haben das Heft drucken lassen, „bevor in Berlin Entscheidungen getroffen werden“, sagt Menzel. Entscheidungen, die wichtig sind für seine Stadt. Standorte sollen konzentriert werden, einige geschlossen, andere verkleinert. An 1.300 Entscheidungsträger soll das Heft verteilt werden, sagt Menzel. Es sei nicht sinnvoll, unwirtschaftliche Standorte zu erhalten. Besser, man konzentriert dort, wo eh schon viel ist.

Dann wirft er das historische Gewicht seiner Stadt in den Raum: Die Stadt hat zur Marine gehalten, auch in den schweren Zeiten nach den Kriegen. Beinahe wäre Wilhelmshaven von der Landkarte verschwunden: „Weil von hier aus die Schiffe gegen England ausliefen, wollten die Alliierten die Deiche öffnen und die Stadt fluten“, sagt Menzel. Und trotzdem: „Wir haben immer den Auftrag der Marine mitgetragen, die Landesverteidigung und jetzt die Einsätze an den Krisenherden der Welt.“

Sollte in Berlin entschieden werden, dass Wilhelmshaven Teile der Marine verliert, dann wäre das ein Schlag – und würde wieder demonstrieren, dass sie machtlos sind. Irgendwer entscheidet, weit weg. Fast wie damals, als in der Hauptstadt im Gebäude der Kaiserlichen Admiralität am Leipziger Platz und in der Bauabteilung des Kriegsministeriums an der Wilhelmstraße der Marinestützpunkt aufs Blatt geworfen wurde, so wie man ihn haben wollte. Mit Hafenanlagen, Kasernen und einer Kirche auf einer grünen Wiese mittendrin.

„Standortentscheidungen sind immer politische Entscheidungen“, sagt Menzel. Er wird sie nicht leicht beeinflussen können. Vielleicht hilft die Broschüre trotzdem. Kiel hat auch so ein Heft vorgelegt. Sie mussten es tun, denn eines weiß Menzel: Was ihm in seinen Regierungsjahren nicht gelungen ist, war das: „Die wirtschaftliche Entwicklung so voranzutreiben, dass die Arbeitslosenzahl dauerhaft gesenkt worden wäre.“ Ein peripherer Wirtschaftsstandort habe es eben schwer – oder setzt auf die, die die Lage für sich nutzen können: den Zugang zum Meer. Also: die Marine. Immer wieder die Marine. Sie kommen einfach nicht los von ihr. Dabei scheint die Lage gerade jetzt nicht schlecht zu sein.

Erstmals seit Jahren ist die Bevölkerung wieder leicht angestiegen, in der Fußgängerzone, heißt es, werde Media-Markt oder Saturn in das alte Hertie-Kaufhaus ziehen, steinern, würdig, aber auch ein bisschen traurig. Seit einem Jahr steht es leer. Am anderen Ende der Stadt werden in diesen Tagen die letzten Kubikmeter Sand aus dem Meer geholt, um die Fläche für den Tiefwasserhafen Jade-Weser-Port aufzuspülen. Groß wie 500 Fußballfelder, die Kaimauer 1,7 Kilometer lang, fast 1 Milliarde Euro soll er kosten. Der Hafen soll die Zukunft sein. Containerschiffe der neuesten Generation werden da vom Sommer nächsten Jahres an festmachen, Schiffe mit über 16 Meter Tiefgang. Es ist mal wieder ein Versuch, sich ein Stück weit von der Marine zu emanzipieren. Kritiker sagen, gegen Rotterdam und Hamburg habe Wilhelmshaven keine Chance. Menzel sagt: „Der Hafen wird funktionieren.“

Der Seemann freut sich, er will in die Ferne

Am Kai im Marinestützpunkt geht der Abschied weiter. Ein grüner Kranwagen fährt vor, er wird gleich die Brücke wegheben, die Verbindung zwischen Schiff und Land kappen. Noch stehen die, die in wenigen Minuten auseinandergehen werden, überall herum. Die einen, in meist blauen Uniformen, werden auf der „Bayern“ enge Kabinen mit bis zu zwölf Mann beziehen und im Dienste der weltweiten Schifffahrt unterwegs sein. Die anderen werden nach dem Abschied in merkwürdig leere Häuser und Wohnungen kommen. Die Frauen weinen. Die Männer halten die Tränen zurück, einigen ist anzusehen, dass es sie Mühe kostet. Manche haben Frau und Kinder im Arm, menschliche Knäuel, die für den Moment noch so eng verwoben sind, wie sie es ein halbes Jahr nicht mehr sein werden.

Die, die mitfahren, sind alle freiwillig an Bord. Es gibt E-Mail an Bord, wenn die Sehnsucht drängt, können sie vom Funkraum aus telefonieren, auf eigene Kosten. Und sich nach Dienstschluss die Bilder anschauen, die sie sich an ihre Betten und in die Spinde geklebt haben. Ein Soldat sagt, sie seien monatelang auf den Einsatz vorbereitet worden, nun müsse es losgehen. Es klingt so, als freue er sich darauf, weil Seeleute eben immer auch in die Ferne wollen. Er nennt es „die Freude auf das Unausweichliche“. Seine Frau steht neben ihm, der gerade vier Wochen alte Sohn schläft in der Babyschale hinter einem weißen Tuch, die dreijährige Tochter trägt Rosa und guckt mit großen Augen den Vater an.

„Mit Kindern“, sagt er, „ist es schwer. Man verpasst so viel.“ Die Tochter wurde während seines letzten längeren Einsatzes geboren. Die Frau, ganz in Weiß, sagt: „Es ist totaler Mist.“ Sie will für die Tochter in einem Kalender die Tage abstreichen, um die Zeit begreifbar zu machen.

Die Stadt ist wie ein Bahnhof: weinen, winken, weg. Monate später: umarmen, küssen und wieder weg

Wilhelmshaven ist in diesem Moment ein trauriger Ort, voller Sehnsucht nach der Wiederkehr, schon jetzt.

Im Hintergrund stellt sich das Musikkorps „Nordsee“ auf, drei Tuben spiegeln das Licht der Sonne, die fahl durch die Wolken strahlt. Es folgt: das ritualisierte Abschiednehmen der Marine. Der Dirigent schlägt mit seinem Stab in die Luft, die Musiker stehen stocksteif, dann spielen sie „Anker gelichtet“, „internationaler Marinemarsch“, flüstert der Trompeter, als er sich wieder frei bewegen darf. Die „Bayern“ gleitet vom Kai, die Musiker spielen: „Große Zeit, neue Zeit“ und den „Bayerischen Defiliermarsch“.

Wenige Augenblicke später ist das Schiff nicht mehr zu sehen, der Platz vor der Ablegestelle leert sich. Sie fahren jetzt alle weg aus Wilhelmshaven. Die Stadt ist wie ein Bahnhof: weinen, winken, wegfahren. Oder, sechs Monate später: in den Arm nehmen, küssen, wegfahren. Ein Transitort. Immer – oder zumeist – nur Durchgangsstation. Unter der Woche sind die Soldaten auf dem Stützpunkt, untergebracht an Bord eines der Schiffe oder in rot geklinkerten Kasernen, am Freitag fahren sie weg. Nach Hause. Die andere große Sehnsucht strahlt die Ferne aus, das Meer. Ein Soldat sagt, das Schönste sei es, den Sonnenaufgang mitten auf dem Atlantik zu erleben, mit frischen Brötchen aus der Kombüse. Er hat der „Bayern“ am Vormittag hinterhergeschaut. Wenn er einen Lehrgang an Land habe, dann werde er nach zwei Monaten spätestens wieder unruhig und vermisse das Schaukeln an Bord, die Enge, die Kameradschaft, die Weite.

Wilhelmshaven ist die Stadt, die immer zurückgelassen wird. Das klingt nach einem trostlosen Ort, aber in seinem Rathauszimmer hat Eberhard Menzel einen Weg gefunden, dieses vermeintliche Manko in etwas Positive zu verkehren. Genau das mache Wilhelmshaven doch so attraktiv: dass immer wieder neue Leute kommen. Wilhelmshaven schotte sich nicht ab. „Jeder war mal neu hier“, sagt er.

Nur er selbst ist eine der wenigen Ausnahmen. Menzel wurde vor bald 66 Jahren in Heppens geboren, dem Gründungsstadtteil. Dort hatten die Preußen ihr Stück Land gekauft. Nur 200 Meter von dem Reihenhaus entfernt, in dem Menzel wohnt, liegt das erste Hafenbecken. Sein Vater arbeitete in den 1930er Jahren für eine Baufirma, die Fundamente für Hafenanlagen setzte. Menzel ging nie weg aus der Stadt, machte dort bei der AOK seine Ausbildung, erwarb sein Verwaltungsdiplom, trat in die SPD ein und wurde 1986 erstmals Oberbürgermeister der Stadt.

Ein Militärhafen war geplant – mehr nicht

Dabei hätte es die eigentlich gar nicht geben dürfen. Vor dem Bau 1869 war nicht mehr vereinbart worden als ein Marinehafen. 1853 hatte Preußen dem Großherzog von Oldenburg 313 Hektar Land am Jadebusen abgekauft, im Vertrag verpflichtete sich der Käufer, „keinen Handelshafen und keine Handelsstadt anzulegen oder entstehen zu lassen“. Was „über das Bedürfniß des Marine-Etablissements und der Flotte hinaus“ ging, war zu verhindern. Es ließ sich nicht verhindern, und so entstand die Stadt.

Breite Straßen führen dahin, wo die preußischen Planer das Herz der Stadt sahen: zum Hafen. Das Straßennetz wurde pragmatisch ins flache Land gebaut. Niedrige Klinkerhäuser reihen sich aneinander, das waren die Werftarbeitersiedlungen. Dann wieder – da war Berlin das Vorbild – Blockrandbebauung mit Schmuckfassaden, die in der salzhaltigen Seeluft verwittern. Ganze Straßenzüge scheinen leer zu stehen. In der Fußgängerzone macht sich seit den neunziger Jahren die terrakottafarbene Nordsee-Passage breit, sie enthält Bahnhof, Läden und Parkhaus. Die Spindeln, die auf die Parkdecks führen, stehen dort wie Symbole des Sieges des Autos über den Menschen. Drinnen wird man vom Fettgeruch des Grillrestaurants empfangen. Auf dem Büchertisch der Buchhandlung stapeln sich Fachbücher für Kriegs- und Waffennarren. „Schlachtpläne des Panzerkrieges“, „Kampfflugzeuge des Zweiten Weltkrieges“.

Dabei hat die Stadt in den letzten Jahren viel dafür getan, das Militärische dort abzulegen, wo es möglich war. Als die Marine das Areal des Großen Hafens nicht mehr benötigte, dehnte sich die Stadt zur Seeseite hin aus. Mit Wohnungen, Restaurants und einem Nobelhotel, das noch etwas verloren dort steht. Und es soll noch weitergehen: „Leben und Arbeiten am Wasser“, verspricht der Oberbürgermeister. In Ansätzen ist das schon zu erkennen, gerade hat an der Brücke über den Ems-Jade-Kanal ein Restaurant eröffnet; während Fischsuppe serviert wird, pflastert ein Mann die Terrasse. Die Zuwendung zum Wasser ist auch ein Stück Zivilisierung. Zwar braucht Wilhelmshaven die Marine, bemüht sich aber, nicht nur Anhängsel an Kasernen und Kaianlagen zu sein, sondern selbstständiger zu werden.

Für Frank Morgenstern ist es das längst. Dass er es sagt, überrascht, denn er ist der Pfarrer der Christus- und Garnisonkirche, die als Marinekirche gebaut wurde. Ihr Grundstein wurde gelegt, als König Wilhelm I. an die Jade kam, um Wilhelmshaven zu gründen: am 17. Juni 1869. Das Altarbild zeigt eine ruhige See im Sonnenuntergang, darüber, in den Wolken, ein Kreuz. Es ist: die See nach der Skagerrakschlacht, der blutigsten Seeschlacht des Ersten Weltkriegs.

Die Kirche ist Gotteshaus und Traditionsstätte, stärker ist kaum ein Gebäude mit der Geschichte der Stadt verbunden. Und doch sagt Morgenstern, der neben der Kirche im Pfarrhaus wohnt: „Wilhelmshaven ist heute nicht mehr die marinebestimmte Stadt, die sie mal war.“ Anlagen wie das Marinearsenal, die Werft der Marine, lägen zwar „dicht dran, aber irgendwie auch nicht“. Er bemüht das Bild von Nachbarn. Sie wohnen nebeneinander, grundsätzlich macht jeder seins, man grüßt sich, hält zusammen. Es klingt nach guten Nachbarn.

Morgenstern weiß natürlich um die Probleme der Stadt. Die hohe Arbeitslosigkeit, die Armut. Und die Wunden, die die Stadt über die Jahrzehnte erlitten hat – wegen der Marine?

Die Wunden machen die Stadt spannend, findet er. Er muss nur vor die Tür gehen und steht mitten in der jüngeren Geschichte. „Das fasziniert mich.“ Gemeinsam mit seinem Kollegen nutzt er das, was die Marinepräsenz angerichtet hat. Sie machen Passionsandachten an den Orten, an denen Zwangsarbeiter für die Marine schufteten, wo Flakstellungen Flieger abschossen, an den Bunkern, die noch heute überall in der Stadt zu sehen sind.

Hier, am Niedersächsischen Wattenmeer, legt das Schiff los, das in Afrika Piraten bekämpfen soll

„Gehn Se zum Strand, ist Hochwasser“, sagt die Frau

Sie spüren das Interesse, die Wilhelmshavener wollen sich mit ihrer Stadt auseinandersetzen. Es ist, als fordere die Stadt mit ihrer Geschichte geradezu dazu auf. Die Kirchenleute arbeiten mit dem Theater zusammen und den Kulturveranstaltern vom Pumpwerk, mit dem Marinemuseum und der Kunsthalle. Es hat sich ein Netzwerk gebildet, das dem Ideal einer aktiven Bürgergesellschaft schon sehr nahekommt.

Morgenstern trägt ein bunt-kariertes Hemd und schwarze Jeans. Er ist seit 17 Jahren Pfarrer in Wilhelmshaven. Er kannte es nur aus der Ferne. Und sagt heute: „Es ist meine Stadt geworden.“ Von seinem Pfarrhaus erreicht er zu Fuß in wenigen Minuten die Geschäfte, das Kino und die Landesbühne. Er sagt: Man hat hier „Einkaufen am Meer“. Und wenn ihm danach ist, geht er zehn Minuten in die andere Richtung und kann in die Nordsee hüpfen. „Dann hat man Sommerfrische in der Stadt.“

Der Südstrand. Es kann passieren, dass man durch die triste Fußgängerzone läuft und dann plötzlich eine Frau sagt: „Gehn Se mal zum Strand, es ist Hochwasser.“

In den 1920er Jahren haben sie fünf Hotels auf den Deich gebaut, expressionistische Ziegelarchitektur mit weißen Fensterrahmen, die Häuser tragen Namen wie Delphin oder Lachs. Herbe Schönheit, die man sich erobern muss, vor allem wenn das Wetter nicht mitmacht. An grauen Tagen sieht das so aus: Die Nordsee drückt das Wasser in den Jadebusen, die Strandkörbe sind mit Holzgittern verriegelt, sie stehen aufgereiht wie Soldaten beim Appell auf einem Streifen Gras, davor verläuft ein Weg aus Beton. Es muss hart mit sich selbst sein, wer an einem solchen Tag ins Wasser geht. Einer macht’s, sein Kopf verschwindet zwischen den Wellen und taucht wieder auf. Eine Touristin in bunter Funktionsjacke sagt: „Das nennen die hier also Strand.“

Doch am Tag darauf, als die Sonne scheint, hat auch der Südstrand etwas Südliches. Gleich nebenan ragt ein Starfighter in die Luft, das Kampfflugzeug, ein Exponat des Marinemuseums.

Die Wellen schwappen ans Land. Es ist Hochwasser. Zeit zu baden.

Felix Zimmermann, 37, ist sonntaz-Redakteur. Wilhelmshaven hat ihn überrascht – positiv

Kay Michalak, 44, ist freier Fotograf. Den teuren neuen Hafen hat die Stadt gar nicht nötig, findet er

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