Parkbank – oder Sex gegen Unterkunft

Fast ein Viertel der Bremer Obdachlosen sind Frauen. Viele wohnen sich bei Freunden und Bekannten durch, um nicht im Freien übernachten zu müssen. Doch auch dort sind sie sexuellen Übergriffen ausgeliefert. Einen Ausweg bietet die Innere Mission, die seit zehn Jahren eine Obdachlosen-Unterkunft nur für Frauen anbietet. Zwei Betroffene erzählen

Nicht mehr lange und Marion hätte es getan. Ihre Selbstachtung gegen ein warmes Bett eingetauscht. „Angebote von Männern“, wie die 46-Jährige es nennt, gab es genug und viele obdachlose Frauen wie Marion greifen darauf zurück. Doch „Sex gegen Unterkunft“ kam für Marion, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, nicht in Frage. Lieber schlief sie die halbe Woche, bis eine Freundin sie bei sich unterschlupfen ließ, im Freien. Dort, wo viele Frauen im Dunkeln nicht einmal mehr alleine spazieren gehen. „Wenn man im Bürgerpark schläft, können schlimme Dinge passieren“, erzählt sie, „man wird vielleicht nicht gerade umgebracht, aber…“ Sie spricht nicht weiter.

Obdachlose Frauen sind besonders von Gewalt bedroht, sagt Willi Albers, stellvertretender Bereichsleiter der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission Bremen. Dabei seien einige vor gewalttätigen Partnern geflohen, ein Schritt, den viele offenbar erst sehr spät machen. „Frauen passen sich eher als Männer an Wohnverhältnisse an, die ihnen nicht gut tun“, sagt Albers. Er ist froh, dass er den Frauen seit zehn Jahren das Angebot machen kann, in einer eigenen Frauenunterkunft unterzukommen, auch Marion hat dort Quartier gefunden. Früher hätte es für sie nur ein Mehrbettzimmer gegeben – in einem Haus mit 50 bis 100 Männern, abhängig von der Jahreszeit. „Das kam für viele Frauen wohl nicht in Frage“, sagt Albers. Jetzt beobachtet er, dass seit einigen Jahren die Zahl der weiblichen Obdachlosen in Bremen steigt, die acht Plätze im Frauenwohnheim sind fast immer alle belegt, sagt Albers, und meistens hätten sie eher ein Bett zu wenig als zu viel.

Immerhin ein Viertel derjenigen in Bremen, die sich in „ungesicherten Wohnverhältnissen“ befinden, wie es bei der Inneren Mission heißt, sind Frauen. Dennoch fallen sie im Straßenbild viel weniger auf, zum Teil, weil sie eben doch bei Freunden und Bekannten „unterkommen“, zum Teil aber auch, weil sie mehr auf sich achten, glaubt Marion. „Man versucht sich so zu pflegen, dass es keinem auffällt“, sagt sie. Die ganze Zeit sei sie auf der Suche nach kostenlosen Toiletten gewesen oder einer Möglichkeit, sich zu waschen.

Anita weiß genau, wovon Marion spricht. Auch sie lebt in der Übernachtungseinrichtung der Inneren Mission, auch sie möchte nicht, dass ihr Nachname in der Zeitung erscheint. Ein Jahr hat die 52-Jährige obdachlos in ihrer Heimat in Ostfriesland gelebt, bevor sie nach Bremen kam. „Vor zwei Jahren hätte ich jeden für verrückt erklärt, der mir gesagt hätte, ich würde irgendwann einmal obdachlos“, sagt sie. Dann starb Anitas Mann. „Ich habe versucht mich tot zu hungern und tot zu saufen, weil ich nicht den Mut zum Selbstmord hatte.“

Psychische Probleme sind bei Frauen ein häufiger Auslöser für die Obdachlosigkeit, während bei Männern der Alkoholkonsum im Vordergrund steht, sagt Albers von der Inneren Mission. Auch Marion verlor ihre Wohnung, weil sie unter starken Depressionen litt. Sie beschreibt ihre Unfähigkeit, aktiv zu werden: „Es war klar, dass ich aus der Wohnung raus musste, weil sie renoviert wurde. Aber ich habe die Sachen treiben lassen.“ Nachdem ein Freund, bei dem sie untergekommen war, an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben war, lebte sie kurz auf der Straße und nun in der Übernachtungseinrichtung für Frauen der Inneren Mission. Sie ist froh über dieses Angebot: „Ich wollte nicht in eine Pension, in der nur Männer sind, die schwer trinken, mit allen Folgeerscheinungen.“ Wenn man nicht schon vorher depressiv sei, werde man es spätestens dort, sagt sie. Außerdem kenne sie viele Frauen, die wegen Gewalterfahrungen zu Hause gar kein normales Verhältnis mehr zu Männern entwickeln könnten. Deswegen haben Männer auch keinen Zutritt zu ihrem derzeitigen Zuhause.

Doch den Schritt zu wagen und sich helfen zu lassen, fällt nicht allen Frauen leicht. Anita erinnert sich, wie sie mehrmals vor der Bahnhofsmission stand, die Klinke schon in der Hand: „Ich bin, seit ich 16 Jahre alt war, nicht so errötet, so sehr habe ich mich geschämt.“ Jetzt ist sie froh, um Hilfe gebeten zu haben.

Nicht alle Menschen seien bereit, diese Hilfe zu gewähren, sagen die Frauen. Beide erzählen, wie sie auf Behörden herablassend behandelt worden seien. Und im Alltag überwiege das Gefühl, dass die Menschen „von draußen“ ihnen wenige Möglichkeiten geben, sich wieder zu integrieren.

Jana Wagner