Das den eigenen Fragen ausgesetzte Tier

Nachdenken über das Unglück bekommt dem Leben manchmal gut: Der amerikanische Philosoph Stanley Cavell liest aus Kinofilmen heraus, was wir wissen wollen, aber nicht wissen können. Eine Tagung der Universität in Potsdam nimmt den 80-Jährigen endlich genauer in den Blick

Stanley Cavell ist einer der großen Philosophen unserer Zeit. Nur ist sein Lieblingsaufenthaltsort der zwischen den Stühlen und Stilen, zwischen den Traditionen und Denksystemen, zwischen, genauer gesagt, der angelsächsisch-analytischen und der alteuropäisch-kontinentalen Denkart. Cavell hat Musik studiert und über Kunst und Theater, vor allem aber ein paar der schönsten und klügsten Bücher übers Kino geschrieben. Schon deshalb wusste die oft lebensfern ins ich selbst kreisende, in den USA dominierende analytische Philosophie wenig mit ihm anzufangen, von seinen Affinitäten zur französischen Dekonstruktion mal gar nicht zu reden. Aber auch der europäischen Kontinentalphilosophie blieb einer wie er, der von Wittgenstein nicht lassen und dem Amerikaner Emerson treu bleiben will, trotz allem fremd. Da hielt man sich lieber an einen erzpragmatischen Renegaten der analytischen Schule wie Richard Rorty.

Von Rortys Neopragmatismus unterscheidet sich Cavells Position fundamental. Daran ließ auch der Vortrag keinen Zweifel, den er zum Auftakt einer ganz ihm und seinem Werk gewidmeten Konferenz an der Universität Potsdam mit dem schönen Titel „Happy Days“ hielt. Gegen die pragmatische Abklärungsphilosophie, die metaphysische Fragen in Brauchbarkeitskalkulationen entschärft, insistiert Cavell auf der nicht aufzuhebenden Unmöglichkeit, mit der Welt und dem Leben denkend und handelnd zurande zu kommen. Für Cavell ist der Mensch das dem eigenen Fragen ausgesetzte Tier, das mit der Erkundung der eigenen Existenz, mit der Sprache und mit den fremd-vertrauten Wesen, die seine Mitmenschen sind, nie an ein Ende kommt. (Außer natürlich im Tod, dem gewissesten und ungewissesten aller Dinge.)

Das konstitutive Unglück unserer Existenz liegt für ihn darin, dass wir immer mehr wissen wollen, als wir mit Sicherheit wissen können. Paradoxer gesagt: dass wir uns sogar dessen, was wir am gewissesten zu kennen glauben – die Gefühle noch und gerade des geliebtesten Anderen –, nicht ein für alle Mal gewiss sein können; das Glückspotenzial des Menschen besteht dann umgekehrt darin, der sicheren Ahnung zu vertrauen und zu folgen, dass dieses Nicht-Wissen nicht das letzte Wort sein kann. Das Nicht-Wissen als letztes Wort zu nehmen, das ist die Position, die Cavell Skepsis nennt. Im fortgesetzten Widerstand gegen die Skepsis liegt der tiefste Grund seines Denkens, auf dieses Thema kommt er, aus den unterschiedlichsten Richtungen und bei den verschiedensten Gelegenheiten, zurück.

Sein Eröffnungsvortrag war eine solche Gelegenheit, wenngleich keine ganz gewöhnliche. Denn Cavell las aus seiner soeben abgeschlossenen, aber noch unveröffentlichten Autobiografie. Sie ist, dem Eindruck nach, den man erhielt, so persönlich wie philosophisch. Und unterscheidet sich damit nicht sonderlich von seinen anderen Texten, denn immer geht Cavell vom Leben aus und kehrt zur Frage, wie wir unser Leben einrichten können und sollen, zurück. Das späte Kapitel aus dem 700 Seiten umfassenden Werk, aus dem Cavell las, erwies sich denn auch als Tour d’Horizon durch die Lebensthemen des Philosophen.

Mit dem französischen Denker Maurice Blanchot war eine der Skepsis sehr nahe Position aufgerufen, der der Jazz-Fan Cavell in mal weit ausholenden, mal eher synkopisch-assoziativen Denkbewegungen und Rekursen auf – unter anderen – Dante, Augustinus, Wittgenstein und Howard Hawks zu Leibe rückte. Stanley Cavell ist schon achtzig Jahre alt, er war aber beim Vortrag, bei der Diskussion hinterher und dem Empfang auf der Terrasse des Neuen Palais im Park Sanssouci hellwach, freundlich und aufmerksam, kurz gesagt: das Leben selbst.

EKKEHARD KNÖRER

Die Tagung zu Cavell geht am Samstag mit den Themen „Drama & Image“ und „Film & Morals“ zu Ende. Zentrum für Europäische Aufklärung, Potsdam, Am Neuen Markt 9d, 10 Uhr