An einem ganz normalen Freitag

Der Plot ist nicht neu, auch die Kulisse ist bekannt: Im Wedding nehmen Beamten unter Protest der Anwohner einen Migranten in Gewahrsam. Die Einsatzkräfte sprechen von Behinderung des Einsatzes. Aber das ist nur eine Version der Geschichte

Für Ärger im Soldiner Kiez im Wedding sorgte am vergangenen Freitag die Polizei. Die Beamten hatten versucht, einen 29-Jährigen, der orientierungslos auf einer Kreuzung herumlief, in einen Funkwagen zu setzen. Der Mann, der aus einer Einwandererfamilie stammt, schlug laut Polizei mit seiner Hand immer wieder auf eine Mauer ein. Weil er aggressiv und verwirrt reagierte, habe man ihn am Boden gefesselt. Etwa 70 Menschen versammelten sich laut Polizei und behinderten den Einsatz. Ein Mann, der angeblich die Aktion massiv störte, wurde festgenommen.

Im November vergangenen Jahres kam es zu einem ähnlichen Vorfall im Kreuzberger Wrangelkiez. Damals behinderten türkische Jugendliche die Polizei.

VON TINA VEIHELMANN

Wedding, Pankstraße Ecke Badstraße. 70 Anwohner behindern am Freitag gegen 20 Uhr massiv die Polizei. Während die Beamten einen 29-jährigen Migranten in Gewahrsam nehmen, geben die Umstehenden lautstark Kommentare ab, ein Mann tut sich besonders hervor, zerrt an den Polizisten, versucht, den Verhafteten zu befreien. Er muss mit Hilfe weiterer Einsatzkräfte ebenfalls festgenommen werden. So etwa klingt die Version der Berliner Polizei. Und so klingen anschließend die Meldungen der Presseagenturen.

Die Sprache ist sachlich – aber die Bilder kann man mühelos dazufantasieren. Die Kulisse ist schließlich bekannt: ein Problembezirk, diesmal im Berliner Norden, Migranten, Türken, Araber. Auch der Plot ist nicht neu. Im letzten November im Wrangelkiez ging die Geschichte so: Türkische Jugendliche behindern Polizeieinsatz. Pöbeln die Beamten an. Werden laut und aggressiv. Die Stimmung, im „zugigen Altbauviertel mit hohem Ausländeranteil“ sei „brenzlig“, den Beamten sei „mulmig“, es fehle nicht viel und die Sache gerate „außer Kontrolle“. Und schon sind die „Pariser Verhältnisse“ mitten in Berlin.

Man könnte die Geschichte diesmal auch anders erzählen: Es ist Sonntagnachmittag. Wedding, Pankstraße Ecke Badstraße. Seit dem „Vorfall“ sind zwei Tage vergangen. Die Sonne ist herausgekommen und scheint auf Weddinger Gemüsehändler und Zeitungskioske, die Damen haben ihre Sommerkleider aus den Schränken geholt. Der Verkehr rauscht, ein paar Leute warten an der Bushaltestelle. Alles ist wie sonst.

Nur eins ist anders: Cihan ist nicht da. Cihan Kabadayi ist 29 Jahre alt, trotzdem nennen die Leute ihn „den Jungen“. Fast alle, die in der Gegend wohnen, kennen ihn. Er ist dürr, hat struppiges Haar und ein braungebranntes Gesicht, weil er fast immer draußen ist. Meist steht er hier an der Kreuzung und schaut den Passanten zu. Manchmal sitzt er auf der Verkehrsinsel, manchmal auf den Kirchenstufen. Manchmal rennt er bei Rot über die Ampel, und die Autos bremsen scharf. Mit dem „Jungen“ stimmt irgendwas nicht, sagen die Leute. Aber er tut niemandem was.

Das haben sie auch am Freitagabend gesagt, als sich der „Vorfall“ ereignet, als sie nach und nach dazukommen und sehen, dass da irgendwas passiert. Dass da zwei Polizisten sind, die auf den Jungen mit dem struppigen Haar einreden. Dass es zu irgendeinem Handgemenge kommt. Die 39-jährige Armagan Cetin geht gerade über die Straße, hat ihre Tochter Fatima an der Hand, als die Kleine ihrer Mutter zuruft: „Guck, Mama!“ Cetin guckt und sieht, wie die Polizisten Cihan zu Boden drücken. Sie geht schneller, aber die Beamten sind noch schneller als sie. „Sie hatten den Jungen dann so unter sich“, sagt Armagan Cetin später, „und haben so dreimal auf ihn eingedroschen. Keine Schelle, so geboxt.“ Cetin, die Cihan kennt, erschrickt und denkt: „Der tut doch keinem was.“

Ein Mann mit Halbglatze steht bei Cihan und den Polizisten, er fuchtelt mit den Armen und ruft immer wieder: „Hören Sie auf, den Jungen zu schlagen. Der ist harmlos. Der ist immer hier. Hören Sie auf!“ Der Mann ist ein Händler aus einem Geschäft an der Ecke, Cetin kennt auch ihn. Inzwischen sind an die 60, 70 Leute an der Kreuzung stehengeblieben und gucken oder protestieren. Es sind Kreti und Pleti, Hinz und Kunz und auch Kemal, Jussuf und Yasemin.

Noch mehr Polizei trifft ein. Cetin sieht, wie auch der Mann mit Halbglatze zu Boden gedrückt wird. Der 29-jährige Mohammed Issa ruft: „Der Deutsche hat nichts gemacht!“ Ein Polizist packt ihn am T-Shirt und schüttelt ihn. Zwei Einkaufstüten, die er in den Händen hält, fallen auf den Asphalt.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Cihan und der Mann mit der Halbglatze werden in ein Polizeiauto verfrachtet und abtransportiert. Der Händler wird angezeigt, wegen Landfriedensbruchs, versuchter Gefangenenbefreiung. Der Mann mit der Halbglatze bekommt außerdem eine Anzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Cihan Kabadayi wird seinem Bruder übergeben.

Die Sprecherin der Polizei wird später sagen, die Beamten hätten nur versucht, Kabadayi vor sich selbst zu schützen. Der offensichtlich verwirrte Mann sei unkontrolliert auf der Straße herumgelaufen und habe dann mit seiner Hand auf eine Mauer eingeschlagen bis die Hand blutig gewesen sei. Weil er sich nicht beruhigen ließ, habe man ihn festgenommen. Zum Vorwurf, Cihan sei geschlagen worden, äußert sie sich nicht. Darüber sei nichts bekannt, schließlich lägen gegen die Polizisten keine Anzeigen vor.

Es ist keine große Sache – alles in allem, kein Mord, kein Aufstand –, nur ein Zwischenfall, der anschließend auf gewohnte Art in der Zeitung steht: Wedding. Aggressive Menge von Türken und Deutschen behindert massiv die Polizei.

Und jetzt? Am Nachmittag rauscht in der Pankstraße der Verkehr wie gewohnt. Nur Cihan ist nicht da – obwohl die Sonne scheint. An sonnigen Tagen sitzt er sonst immer hier. Er ist nicht im Gefängnis – er wurde ja gleich wieder freigelassen. Aber er versteckt sich. Er hat Angst.

Sein Bruder, der 32-jährige Cüneyt Kabadayi, ist „traurig“, wie er sagt. Er sagt nicht „wütend“ oder „aufgebracht“. Sondern traurig, und das passt auch besser, denn er hat keine Rechnung zu begleichen – er will nur sagen, dass sich das Ganze sicher hätte vermeiden lassen.

Mit Cihan, dem „Jungen“, stimmt irgendwas nicht, sagen die Leute „Das einzig Gute ist, dass viele aus dem Viertel ein Auge auf Cihan haben“

Cüneyt steht in seiner Wohnung, ein paar Straßen weiter. Er renoviert gerade und hat nicht viel Zeit. „Mein Bruder hat eine paranoide Psychose“, sagt er. „Er nervt manchmal, aber mehr nicht.“ Seit Jahren schon kümmert sich der Sozialpsychiatrische Dienst nicht mehr um ihn – weil keine Aussicht auf Heilung besteht, und weil er auch keinen Schaden anrichte. Bloß ängstlich sei Cihan, er fürchtet Polizisten, Ärzte, Leute, die ihn in geschlossene Räume sperren wollen. Und durcheinander sei er – einer, der ständig seinen Schlüssel verliert und seine Monatsmarke für die BVG. Und er ruft manchmal irgendwas oder springt auf die Straße, plötzlich, ohne erkennbaren Grund.

„Das einzig Gute ist, dass viele aus dem Viertel ein Auge auf ihn haben“, sagt Cüneyt Kabadayi. Deshalb sei er hier nie weggezogen. „Weil sich hier in dieser Ecke vom Wedding viele kennen.“ Weil viele seinen Bruder kennen und wissen, wie er zu nehmen ist. Weil sie ihn nach Hause bringen, wenn er sich verletzt hat, oder ihn aufhalten, wenn er wieder mal bei Rot auf die Straße läuft. Cüneyt muss jetzt weiterstreichen. „Wenn Sie Cihan sehen, sagen Sie Bescheid.“ Der Bruder macht sich Sorgen.

An seiner Kreuzung ist Cihan auch jetzt nicht, am frühen Abend. Ein paar Passanten sind unterwegs. Sie wissen auch nicht, wo der „Junge“ mit den struppigen Haaren ist. Einer hat gehört, dass etwas mit der Polizei gewesen ist.

Ein etwa Fünfzigjähriger mit grauem Haar und Brille hat den „Vorfall“ mitbekommen. „Ich bin zu spät dazugekommen“, sagt er. „Ich kann nicht sagen, wer wen geschlagen hat. Ich habe nur gehört, dass sich alle aufgeregt haben und durcheinanderredeten.“

Es sei bedauerlich, dass hier im Wedding solche Gewalt ausbricht, meint er. Dann denkt er einen Augenblick nach und fügt hinzu: „Dem verwirrten Jungen, der immer an der Kreuzung herumlungert, wurde etwas getan, was wir für unbegründet halten.“ Er hat noch nicht die Meldung gelesen: Menge beschimpft Polizei. Er nennt es einstweilen: Zivilcourage.