Dem Kreativen Raum geben

Als sechsten seiner sechzig Punkte der Berliner Richtlinien der Regierungspolitik 2006–2007 sagt der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit: „Die zeitgenössische Kunst aus Berlin erregt internationales Aufsehen. Berlin ist ein hervorragender Standort mit besonderer Anziehungskraft für Künstler und Kreative aus der ganzen Welt.“ Das multikulturelle Klima und der raue Schauplatz selbst sind in der Tat seit mehreren Jahren ein Anziehungspunkt für die internationale Kreativität.

Im Herzen der Stadt, mitten in Mitte, treffen tagtäglich junge, hypermotivierte Repräsentanten der zeitgenössischen Kunst auf die unkonventionellen Berliner Modelabels und den Schwarm kreativer Freelancer. Allein im direkten Umkreis des Rosenthaler Platzes, jenes Zentrums der sogenannten digitalen Boheme, zählt man achtzehn größere Galerien sowie die international renommierte Kunsteinrichtung KunstWerke (KW) deren „Café Bravo“ der Konzeptkünstler Dan Graham konzipierte.

Der Bezirk Mitte (325.629 offiziell angemeldete Einwohner) begreift sich spätestens seit der Publikation des Freiberuflermanifests „Wir nennen es Arbeit“ von Holm Friebe und Sascha Lobo als Mittelpunkt einer neuen Avantgarde.

Freiheit und Gesetzlosigkeit! So lauten die Schlagwörter der weit verbreiteten Idee des Kunstschaffenden und Intellektuellen als Lebenskünstler. Das kosmopolitische Flair, die scheinbare Regellosigkeit und der trashige Glamour Berlins bieten dieser überhöhten Vorstellung des Kreativen ein perfektes Standing.

Und in der Tat: Irgendwie kann man sich beim konspirierenden Herumsitzen in einem der 36 Cafés, die allein in Mitte im letzten Jahrzehnt eröffnet wurden (im Vergleich zu dreizehn Cafés im klassisch-bürgerlichen Charlottenburg), fast wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Saint-Germain-des-Prés fühlen. Das ästhetische und philosophische Bewusstsein aus „der Mitte“ heraus verändern – genau das ist es, was sich viele Neuberliner erträumen.

Die Tatsache, dass so viele kreative Menschen mit den gleichen Idealen und Träumen an diesem Ort aufeinandertreffen, beflügelt die Hoffnung auf Erfolg. Eine Stadt, bis obenhin gefüllt mit gleichgesinnten, offenen Menschen, bedeutet für viele Ankömmlinge das Paradies auf Erden. Als Insel der Kreativität bietet Berlin seinen Bewohnern Schutz nach außen, hält aber auch gleichzeitig seine Arme für jeden Neuankömmling offen. Eine wilde Mischung von Typen, Identitäten und Hintergründen entsteht durch diese Abwesenheit selektiver Elemente. Und was ist der Kunst – so ist das Ideal – wohl förderlicher als das freie Aufeinanderprallen von Gegensätzlichkeiten?

Der Mangel an einem wirtschaftlichen und sozialen Rahmen bietet den Schaffenden die Chance, sich ohne Leistungsdruck von den bunt sprühenden Funken ständig wechselnder Impressionen inspirieren zu lassen. Da die Freiheit des Künstlers und die Entstehung von weltbewegenden Ideen bekanntlich im Leben als Bohemeselbstentwurf beginnt, kann man sagen: Berlin ist kreativ, weil es für fast jeden Neuankömmling normal wird, erst am späten Nachmittag zu frühstücken. ANNABELLE HIRSCH