„In Ungarn gibt es keine Zigeunermusik“

Das heute startende Schleswig-Holstein Musik Festival widmet sich der Musik Ungarns – und das durchaus unter Rückgriff auf deftige Klischees. Warum das nicht so schlimm ist und unsere Vorstellung ungarischer Musik ohnehin auf Stereotypen beruht, erklärt der Künstlerische Leiter Christian Kuhnt

CHRISTIAN KUHNT, 40, kuratiert seit 1999 das Schleswig-Holstein Musik Festival sowie, seit 2005, auch die Laeiszhalle in Hamburg.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Kuhnt, ist die Idee der Ländermotti nicht überholt? Die klingen ein bisschen nach Buchmesse, die ein touristisch oder wirtschaftlich interessantes Land präsentiert.

Christian Kuhnt: Ich halte solche Länderschwerpunkte für sinnvoll, weil der Blick auf nationale Individualitäten durch die Globalisierung immer seltener wird. Dabei werden die kulturellen Unterschiede dieser Länder ja nicht kleiner.

Aber ein Ländermotto wie – in diesem Jahr – „Ungarn“ unterstellt die Existenz einer nationalen Klangkultur, was auch als eine Art von Gettobildung verstanden werden kann – und die sollte es im sich einigenden Europa doch nicht mehr geben.

Das ist nicht gemeint. Wir wollen aber sehr wohl den Blick auf Unterschiede in nationalen Klangkulturen, auch im Umgang mit Nachwuchs, lenken. Denn wenn man sich mit der Musikszene einzelner Länder befasst, bemerkt man sehr schnell, dass sich Länder wie etwa Finnland und Ungarn extrem intensiv mit der Pflege musikalischen Nachwuchses befassen. Das ist hier gar nicht so bekannt und hat mit den Klischees, die wir im Kopf haben, nichts zu tun.

Trotzdem bedient das Schleswig-Holstein Musik Festival mit Titeln wie „Brahms und die Zigeunermusik“ doch das extremste aller Ungarn-Klischees. Warum das?

Speziell diesen Titel hat das Orchester vorgeschlagen. Wir Organisatoren haben natürlich intensiv diskutiert, ob man das machen soll: mit solchen Klischees arbeiten. Aber im 19. Jahrhundert gab es eine klare Vorstellung von dem, was Volksmusik ist. Brahms war davon beeinflusst. Und Schuld an dieser Entwicklung hat unter anderem Franz Liszt, der die ungarische Volksmusik nach Westeuropa brachte. Da ist es für uns schon spannend, in einem Konzert gegenüberzustellen, was Brahms aus dem Klischee der Zigeunermusik macht. Und wie demgegenüber die authentische Zigeunermusik klingt. Wobei mir klar ist, dass der Begriff „Zigeuner“ hochgradig belastet ist. Aber die Künstler selbst wollen, dass wir ihn verwenden. Roby Lakatos bezeichnet sich selbst als „König der Zigeunergeiger“ – und nicht als König der Roma- und Sintigeiger.

Trotzdem hat der Westen, der diese Hintergründe ja nicht kennt, mit diesem Ausdruck ein Problem?

Ja. Deshalb haben wir ihn ja auch immer in Anführungszeichen gesetzt. Abgesehen davon ist es faszinierend zu sehen, wie intensiv man sich in Ungarn mit der Frage befasst, wie ungarische Volksmusik und Zigeunermusik voneinander abzugrenzen sind.

Wo verläuft denn diese Grenze?

Die Antwort ist einfach: Auf ungarischem Territorium wurde und wird gar keine originär von Zigeunern komponierte Musik gespielt. Was sie spielen, ist vielmehr ungarische – bäuerliche – Volksmusik, die von Zigeunern adaptiert, das heißt äußerst virtuos gespielt wird.

Der Ausdruck „ungarische Zigeunermusik“ beruht also auf einem Missverständnis?

Ja. Denn wichtig ist für die Ungarn – und ist es seit Bartok und Kodaly, die um 1900 mit Phonographen auf die Dörfer gingen und begeistert über diesen musikalischen Schatz wiederkamen, eben diese Volksmusik. Die beide Komponisten enorm beeinflusst hat und im übrigen bis heute gepflegt wird. Ferenc Sebö hat in den 60ern in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Tanzhaus-Bewegung ins Leben gerufen, die es heute noch gibt. Da ging man als Jugendlicher nicht in die Disco, sondern ins Tanzhaus und lernte volkstümliche Tänze, ohne in den Verdacht zu geraten, konservativ zu sein.

Wenn man über das sich auch kulturell einebnende Europa spricht: Finden sich volksmusikalische Elemente auch in der zeitgenössischen ungarischen Musik?

Kaum. Peter Eötvös ist musikalisch so vielfältig, dass man wenig Bezüge zu volksmusikalischen Harmonien findet. Bei György Ligeti auch nicht: Er hat lange in Hamburg gelebt und westeuropäische Einflüsse verarbeitet. Aber bei den Künstlern der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts – Bartok und Kodaly etwa – ist es geradezu frappierend, wie originalgetreu volksmusikalische Elemente in deren Partituren eingingen. Aber auch Eötvös und Ligeti pflegen eine typisch ungarische Haltung.

Die wäre?

Der starke Bezug zum Publikum.

Das heißt, in der nächsten Komponistengeneration wird auch dies ausgestorben sein – oder sehen Sie im Gegenteil einen Trend zurück zu den Wurzeln?

Schwer zu sagen. Aber es kann in einem wachsenden Europa reizvoll sein, sich wieder mit dem Naheliegenden, nämlich dem eigenen musikalischen Erbe zu befassen. Eine Auseinandersetzung, die in Deutschland schwieriger ist, weil wir die Kunstmusik zur dominierenden Kraft erklärt haben und die Volksmusik ein Nischendasein fristet.

Welchem Länderschwerpunkt wird sich das nächste Schleswig-Holstein Musik Festival im kommenden Jahr widmen?

Russland.