martin walser in der taz vor 23 jahren über die anmache von schuberts „schöner müllerin“
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Es sei gewagt. Ich weiß nicht, wie es hinzukriegen ist, daß es schicklich bleibt. Ich bin kein Schamverletzer. Schockverpasser sind mir unangenehm, egal, ob es sich um Elektro- oder Kulturschocker handelt. Also frage ich so schüchtern, wie ich bin: Sind wir als Geschlechtswesen unheilbar verkrüppelt, oder läßt sich da noch etwas ändern?

Daß mir nicht mehr zu helfen ist, weiß ich, aber die Menschheit, kann die sich vom Christentum erholen, oder sind wir zu Tode getauft? Zu allem, was wir wissen, stellen sich die entsprechenden Wörter ein. Selbst wenn wir gerade an Thomas von Aquin denken und dabei eine Käserinde sehen, wissen wir, obwohl wir an den großen Thomas denken, daß da eine Käserinde liegt.

Was aber, wenn wir etwas sehen und haben kein Wort dafür? Das kann peinlich sein. Diese Erfahrung hat mir gerade ein Dreidreivierteljähriger aufgefrischt, mit dem ich 14 Tage lang unter einem Dach wohnte. Nennen wir ihn, da er ohnehin so heißt, Jakob. Den Namen verdankt er der Religion. Jakob hört zurzeit am liebsten Schubert. Er hat eine Kassette, auf der der manchmal fast an Karl Erb grenzende Fritz Wunderlich „Die schöne Müllerin“ singt.

Es kommt vor, daß er sich auf das Sofa wirft während des Jägerlieds, damit sein bißchen Unterkörper der herummahlenden Hand ein wenig entgegenarbeiten kann. Jakob schämt sich nicht. Mir fielen, wenn ich an diesen Vorfrühlingsveranstaltungen eher schielend vorbeiging, einige schreckliche Ansprachen ein, die auf mich vor vielen Jahren verheerend niedergingen.

Jakob blüht auf unter Schuberts schmerzlicher Innerlichkeit. Aber Jakob ist getauft. Ist er damit auch geliefert? Auf jeden Fall könnte ihm keiner ein rechtes Wort anbieten für das, was er beim Jägerlied gern tut. Ich pfeife auf Bezeichnungen. Wörter will ich. In 1.000 Jahren ist das Wort, das ausgerottete, nicht nachgewachsen. Haben wir uns abzufinden mit dem Bibelangebot, das ökonomischen Sinn strafend ins Geschlechtliche überträgt und als Wort eine Null ist? Was also tut Jakob, wenn Schubert ihn so innig anmacht? Peinliches Schweigen. taz, 14. 7. 84