Robin Hood der Häuserwände

Für die einen sind sie Kriminelle, für die anderen Künstler: Streetartisten setzen sich über Gesetze hinweg und riskieren ihr Leben für kleine Sticker und meterhohe Plakate überall in der Stadt. Jetzt hat die Werbung die Macht von Street Art entdeckt

Noch bis zum 19. August läuft im Künstlerhaus Bethanien die Ausstellung „Backjumps – The live issue#3“. Mehr als 20 Künstler zeigen hier ihre Arbeiten. Infos unter www.backjumps.org

Im einstigen Senatsspeicher in der Cuvrystraße eröffnet am kommenden Freitag die Street-Art-Schau „Planet Prozess“. In den folgenden drei Wochen sollen 40 Künstler aus 12 Ländern eine „dynamische Ausstellung“ erschaffen, die sich jeden Tag verändert, so die Veranstalter. Gleichzeitig läuft ein Rahmenprogramm mit Workshops und Vorträgen. Infos: www.urbangrassroots.net FOTO: FELIX/RECLAIM YOUR CITY.NET

VON JOHANNES RADKE

Mitten in der Nacht irgendwo in Friedrichshain. Es ist warm, nur ein schwacher, kühler Wind weht durch die Straßen. Plötzlich kommen drei Jungs mit schnellen Schritten um eine Häuserecke. Ihre Kapuzen sind tief ins Gesicht gezogen. Sie haben Handschuhe an und tragen Stoffbeutel mit sich. Einer von ihnen tritt an den Straßenrand und blickt sich noch einmal in alle Richtungen um. Dann gibt er das Zeichen. Es kann losgehen. Wortlos beginnen sie mit ihrem nächtlichen Werk. Zehn Minuten später sind sie schon wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Einbrecher? Privatdetektive? Sie selbst bezeichnen sich als Künstler. Ihr Ausstellungsraum ist die ganze Stadt. Mit Sprühdosen, Farbeimern, Postern und Filzmalern wollen sie „auf kreative Weise die eigene Umgebung visuell mitgestalten“. Street Art nennt sich die in den USA entstandene Form von bunter Straßenkunst. Dazu gehören die altbekannten Graffiti, aber auch Sticker, meterhohe Plakatmotive, mit Schablonen gesprühte Bilder und sogar bemalte Fliesen – die die Streetartisten auf Häuserwände kleben. Vor allem in Kreuzberg und Friedrichshain kann man täglich neue ihrer ungewöhnlichen Objekte finden. Von stilisierten Porträts bis hin zu komplizierten Detailbildern und aufwendigen Styroporskulpturen. Von eindeutig politisch bis einfach nur amüsant. Die Ideen der Street-Art-Szene scheinen unerschöpflich zu sein.

Dabei ist kaum eine Form so umstritten. Für die einen ist es Kunst im öffentlichen Raum, für die anderen Sachbeschädigung. Während Bürgerinitiativen wie Nofitti e. V. höhere Strafen und die „Ächtung und Bekämpfung des Graffitivandalismus“ fordern, gilt Street Art für viele schon längst als Beweis für die Lebendigkeit und Offenheit Berlins.

Tim Brenner* ist einer von diesen Menschen, die nachts durch die Straßen ziehen, um sich künstlerisch zu betätigen. Unter dem Pseudonym „Grafro“ klettert er seit mehr als drei Jahren nachts auf Hausdächer und malt in schwindelerregender Höhe, kopfüber, mit langen Farbrollen seine Motive an die Wände. Tagsüber klebt er selbstgemachte Aufkleber und Poster an Mülleimer und Hauseingänge. „In erster Linie geht es darum, mir mit den Bildern einen Teil meiner Umgebung anzueignen“, sagt der 25-Jährige. Knapp 100 verschiedene Motive hat er in den letzten Jahren gesprüht, geklebt und gedruckt. „Der eigene Selbstdarstellungsdrang spielt da natürlich eine wichtige Rolle.“ Erwischt wurde er bei seinen waghalsigen Klettertouren noch nie, auch wenn es schon mehrmals richtig knapp wurde.

Street Art bestimmt einen Großteil von Tim Brenners Leben. Während seine Freunde im Park in der Sonne liegen, sitzt er zu Hause und skizziert schon die nächsten Motive. Dabei ist seine Liebe zur Kunst für ihn nicht gerade preiswert. „Manchmal gebe ich schon mal 150 Euro im Monat für Material aus“, erzählt er. Wie „Grafro“ investieren in Berlin hunderte Street-Art-Künstler ihre Zeit und viel Geld in das farbenfrohe Hobby.

„Die Street-Art-Szene ist sehr unterschiedlich“, erzählt Philipp Kruse, „manche Leute malen seit Jahren Graffiti und fangen erst jetzt mit Street Art an, andere zeichnen in ihrer Freizeit Comics und wollen davon Motive auf die Straße bringen.“ In seinem Zimmer im fünften Stock in einem Friedrichshainer Hinterhof sind die Wände bis unter die Decke mit gesprühten Bildern, Stickern und Sprühschablonen verziert. Selbst sein Computer ist komplett bemalt. Im Regal stapeln sich Spraydosen und dicke Filzmaler.

Kruse ist einer der Betreiber von Reclaimyourcity.net, einer der bekanntesten deutschen Websites für Street Art. Jeder kann dafür Straßenkunst fotografieren und die Bilder auf Kruses Website hochladen. Rund 10.000 Fotos aus der ganzen Welt sind bereits online, mehr als 600 Mitglieder schicken regelmäßig neue Bilder ein. Vor drei Jahren hat der 27-Jährige mit einem Freund zusammen das Projekt gestartet. „Wir wollten die Kunst im öffentlichen Raum dokumentieren und für mehr Menschen verfügbar machen“, sagt er.

Was den politischen Anspruch der Street Art angeht, ist die Szene gespalten. „Grundsätzlich handeln alle Künstler aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus“, erklärt der Kommunikationsdesignstudent Kruse. Manche würden bewusst politische Inhalte vermitteln, andere wollen damit nichts zu tun haben. „Einige sagen, dass Street Art an sich politisch ist, weil man sich ja bewusst über Regeln und Gesetze hinwegsetzt.“

Wie sich Kunst und Politik verbinden lassen, zeigt eine Street-Art-Gruppe. Im Internet gibt es Videos, wie sie sich im Neuköllner Volkspark Hasenheide an einer Statue von Friedrich Ludwig Jahn auslassen. Bei der nächtlichen Aktion wird die Statue rosa angemalt und ihr eine selbstgebastelte Maske auf den Kopf gesetzt. Danach ist der bekennende Nationalist und Begründer des Deutschen Turnens kaum noch zu erkennen. Mit erstaunten Blicken gehen am nächsten Tag die Parkbesucher an dem Denkmal vorbei, auf dem jetzt eine Mischung aus Clown und Marsmensch steht. „Free the kids – stop the krauts“ ist am Ende des Videoclips zu lesen. Protestkunst mit einem Augenzwinkern.

Aber längst haben auch professionelle Werbeagenturen Street Art für sich entdeckt. Begriffe wie „Guerillamarketing“ gehören schon lange ins feste Repertoire der großen Werbefirmen. „Die Szene ist schon ziemlich verärgert darüber, dass immer öfter die Idee von Street Art für Werbezwecke missbraucht wird“, so Kruse.

Zuletzt habe beispielsweise Sony massiv auf Werbung in Form von gesprühten Logos und Stickern gesetzt. Dass es sich bei solchen Motiven nicht um Kunst, sondern um reine Werbung handelt, konnte man auf den ersten Blick nicht erkennen. Zum Teil bezahlte der Konzern Street-Art-Künstler für Werbedesigns. Trotzdem glaubt in der Szene kaum jemand daran, dass die Werbeindustrie auf lange Sicht echte Straßenkunst verdrängen könnte. „Die Sachen, die die Künstler aus eigenem Antrieb mit ihrer Kreativität schaffen, werden immer besser sein als irgendwelche Werbeaufträge“, sagt Philipp Kruse und grinst.

* Name geändert, ist der Redaktion bekannt