Nachtaktiv

Deutsche Hamster

Als ich den Hamster meines Patenkindes in Pflege nehmen sollte, hatte ich mir das nicht kompliziert vorgestellt. Hamster leben in der Nacht, wir würden uns schon verstehen, dachte ich. Mein Patenkind ist neun, ein ordentliches Kind, straff geflochtene Zöpfe, forscher Blick. So stand sie im Türrahmen, wie immer fleckenlos, den Hamsterkäfig mit einem dunklen Tuch umwickelt. Niemals, flüsterte sie, dürfe ich das Tier tagsüber wecken, Sternchen sei nachtaktiv. Das letzte Wort sprach sie aus, als wäre sie bereits eine berühmte Zoologin, die sich nur ungern zu Ignoranten herablässt. Dann sah sie sich kurz in der Wohnung um und entschied, nachdem sie Stehlampe und Vase verrückt hatte, dass Sternchen neben dem Sofa wohnen sollte. Schließlich würde ich tagsüber nie dort sitzen, sondern am Schreibtisch.

Zum Abschied drückte sie mir ein handgeschriebenes Merkblatt mit Pflegehinweisen in die Hand. Der schwierigste Punkt auf dem Blatt betraf die Körpersprache des Hamsters, auf die ich genau achten sollte, denn in den ersten Tagen kam Sternchen nicht aus seinem Holzhäuschen heraus. Dabei hatte ich jeden Abend, wie vorgeschrieben, den Käfig geöffnet und um ihn herum ein kleines rotes Gatter aufgebaut. Dorthinein musste ich ein Fort, kleine Hütten und Playmobil-Ritter stellen, auch hier war die Anordnung genau vorgeben. Alles hatte ich richtig gemacht, und doch ließ sich der Hamster nicht blicken.

Gestern fand ich den Fehler – ich hatte die deutsche Flagge für das Fort vergessen. Als ich sie hisste, kam Sternchen aus seinem Häuschen, rannte zielstrebig die Playmobil-Ritter um, lief zum Fort und anschließend zu einem Salatblatt, das er wie eine türkische Pizza aufrollte und genüsslich aß. JUTTA RAULWING