Raron, Rilke und der Zug der Zeit

Vom Grab des Dichters aus hat man eine grandiose Aussicht auf die Bergdörfer des Wallis. Es ist die beste in der ganzen Gegend

Über Felsstraßen und durch Tunnel schlängelt sich der Zug an den Höhen des Wallis entlang, nachdem er die Lötschbergröhre bei Goppenstein verlassen hat. Bald wird ein neuer Tunnel den Weg verkürzen. Er führt bei Frutigen in den Berg hinein und endet in Raron, dem kleinen Dorf im Oberwallis. Will man derzeit während einer Bahnfahrt einen Blick auf den Burgfelsen von Raron erhaschen, muss man gut hinschauen. Genau diese Perspektive aber ist es, aus der der Dichter Rainer Maria Rilke Feuer fing für das Wallis. Hierher, so sagte er sich, musste er zurückkommen.

Die Burgkirche St. Romanus scheint förmlich aus dem Felsen herauszuwachsen. Hier ist auch der Friedhof der 1.700-Seelen-Gemeinde von Raron im Oberwallis. Der letzte Weg ist steil. Dafür aber ist dieser Gottesacker wahrscheinlich der mit der besten Aussicht. Von dem Fels, um den sich das kleine Örtchen Raron schart, heißt es, habe Rilke immer wieder Ausschau in diese Region gehalten und das klare Licht gerühmt. Hier wollte er einmal begraben sein.

Unverbaubar ist der Blick von seiner Grabstätte aus auf Bergdörfer wie Eischoll, Bürchen oder Ergisch. Orte, die sich zwischen Reben festkrallen im letzten üppigen Grün der Berge – bevor sich die Felsen auftürmen. Und am Horizont die weißen Riesen der Viertausender, zusammengeschoben zu glitzernden Ketten. Genau diesen Platz hatte er sich ausgesucht. Für seinen Grabstein wählte der Rosenfreund Rilke die Worte: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern“.

Stehen und staunen, das mag man sehr lange an diesem Ort, der so ruhig ist und doch so windig. Da hat man die Burgkirche im Rücken. Seit rund fünfhundert Jahren hat sie das Dorf im Visier. In den Fresken innen hat man den Teufel an die Wand gemalt. Sehr anschaulich macht er lasterhaften Frauen Feuer unter dem Hintern. Zahlreiche arme Sünder – darunter auch Kinder – werden in die Hölle gekarrt. Dies soll die flächenmäßig größte Darstellung des Jüngsten Gerichtes sein, die in der Schweiz zu finden ist, sagt der Rilke-Fachmann Curdin Ebneter von der „Fondation Rilke“ in Sierre.

Von dieser Malerei weiß er den Bogen zu spannen zu Rilke. Der siedelte nämlich gleich das Jüngste Gericht auf dem Burghügel in Raron an. „Wie eine schwarze Wolke kriecht das Wallis hier herauf“, soll er gesagt haben, „während unten die Sonne scheint.“ Und so wie hell und dunkel scheide sich an dieser Stelle das Gute und das Böse. So sicher die alte Kirche auf ihrem Felsen thront, so beschwerlich ist es, dorthin zu gelangen.

Für ein bequemer zu erreichendes Gotteshaus sprengte man eine Grotte direkt unten in den Fels hinein. Die einzige Kirche Europas, die vollständig in den Fels gebaut ist, entstand. Während hoch oben der Zug den Berg entlangsaust, erinnert der Brunnen im Dorf daran, dass die Bewohner von Raron ein Gelübde einzulösen haben. Sie hatten wie seinerzeit auch die Oberammergauer während einer Pestepidemie einmal versprochen, alle zehn Jahre Festspiele aufzuführen, wenn die Plage von ihnen genommen würde.

So geschieht es bis heute. Und der Teufel hat dann seinen Auftritt vor der Burgkirche zwischen den Zinnen. Direkt vor Rilkes letzter Ruhestätte. Fast in Sichtweite ist auch das neue technische Meisterwerk: der Lötschbergbasistunnel. Rund 35 Kilometer frisst er sich durch den Berg. Eine gute Stunde hat durch ihn gespart, wer aus Basel ins Wallis reist. Keine Frage, den Eisenbahnreisenden und Wallis-Fan Rilke hätte das auch gefreut.

Und Raron? Um Raron muss man sich nicht sorgen. Der Zug der Zeit wird auf seinem Weg nach Visp hier kaum einen Halt einlegen. KORNELIA STINN