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Wahrheit liegt im Schmerz

SALZBURGER FESTSPIELE Dimiter Gotscheff macht aus Handkes „Immer noch Sturm“ eine Familienaufstellung und würdigt den Widerstand der Kärntner Slowenen gegen die Nazis

Peter Handke geht es um den Vorrang poetischer Weltaneignung vor der Vernunft

VON UWE MATTHEISS

Sie haben sich fein gemacht zur Festspielpremiere: Städter im Landidyll, ausgestattet von den besten Salzburger Trachtenhäusern mit gebügeltem Leinen und gebauschten Röcken an einem der raren Sommerabende dieses Jahres. Mit der imaginierten Beschaulichkeit bäuerlichen Lebens hat die Perner Insel etwas außerhalb in Hallein allerdings wenig zu tun. Hier wurde Salz gesotten, eine Knochenarbeit. Im Inneren überschreiben die Salzburger Festspiele die industrielle Vorgeschichte mit einem anderen alten Manufakturprodukt: Theater.

Aber auch dieser schöne Brauch hat seine Nachgeschichte längst erreicht. Der Himmel ist leer, wie so oft bei der Bühnenbildnerin Katrin Brack. Einzelheiten, die der Welt ein Abbild geben könnten, scheinen ausgesogen vom Vakuum des Zeitstaubsaugers. In diesem Nichts ruft Peter Handke mit „Immer noch Sturm“ wie der alte blinde Sänger noch einmal die Bilder, Gerüche und Geschmäcker der Kindheit auf, bevor auch sie endgültig verschwinden. Projektionen brauchen ein materielles Substrat: grüngelbe Papierblätter, die über die viereinhalb Stunden der Aufführung in wechselnder Intensität auf die Bühne fallen, und ein Ensemble leibhaftiger Schauspieler in der Regie von Dimiter Gotscheff.

Jens Harzer, das idealisierte „Ich“ des Dichters, irrt durch die Leere. Im Laub stapfend imaginiert er die – darf man das so sagen? – Heimaterde im Kärntner Jaunfeld samt Apfelbaum mit 99 roten Äpfeln. Dann endlich ruft er die „Ahnen“ auf, schwankende Gestalten, die im Halbdunkel der Hinterbühne auf ihren Auftritt lauern. Was sich nun ereignet, kennt man aus mal mehr, mal weniger seriösen Psychotherapieverfahren, die individuelle Leiden mit szenischen Mitteln in dynastische Verhängnisse ausweiten. Mutter, Großeltern, Onkel und Tante treten auf und erzählen die bittere Geschichte der Kärntner Slowenen als eine Art belebtes Familienfoto.

Kampf der Holzknechte

Über Jahrhunderte waren sie vom Habsburgerreich über die österreichische Republik bis zu den Nazis ihrer Sprache wegen als rückständige Bauern bedrängt und gering geschätzt. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges weigerten sich immer mehr Kärntner Slowenen, den Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht mitzumachen, und zogen sich als Partisanen in die Wälder zurück. Dieser Kampf der Bauern und Holzknechte hat nicht unwesentlich zur Wiedererlangung der österreichischen Souveränität nach dem Krieg beigetragen. Die Kärntner Slowenen hatten für einen Moment die Bühne der europäischen Geschichte betreten. Der Kalte Krieg hat sie sogleich wieder verdrängt. Peter Handke ist wütend darüber. Einem fortschrittlichen Bewusstsein ist dieser Affekt nicht fremd. Die österreichische Zeitgeschichte hat – zumal in den südlichen Landesteilen – der slowenischen Minderheit gegenüber immer noch eine Bringschuld.

Um Aufklärung aber geht es nicht, sondern um den Vorrang poetischer Weltaneignung vor der Vernunft. Aus einer Dichterseele die ganze Welt schöpfen, aus einem Bewusstsein den Geist einer ganzen Epoche filtrieren, soll das, was bei Goethe, Tschechow und Bob Dylan gelang, in unserer Zeit noch einmal mit Handke gelingen? Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum Dichterfürstentum – in Form und Inhalt. Das Marionettenspiel der Ahnen lässt das Individuum im Kollektiv der Sippe versinken, wie die Familienaufstellung, der sie abgeschaut zu sein scheint.

Dimiter Gotscheff und sein Ensemble lässt das ratlos zurück in einer Dissonanz der Spielweisen. Bibiana Beglau gibt in sonorem Alt die erdenschwere Tragödin. Oda Thormeyer, die Mutter des „Ich“, und Hans Löw, sein strizzihafter Onkel, bleiben wunderbar leicht wie Commedia-Figuren. Die anderen sind irgendwo dazwischen, und über allen Gabriela Maria Schmeide, eine Großmutter wie aus der „Blechtrommel“.

Dem Gedanken nach hat all das etwas von Geschichtswerkstatt aus den 80ern, die die Altvorderen zuletzt doch besser machen will, als sie waren. Die Wahrheit läge im Schmerz und nicht in seiner lokalkolorierenden Heilung. Handkes „Ich“ wählt sich zur Quelle von Identität diejenigen, die ihn ablehnen, ihn, das uneheliche Soldatenkind, den deutschen Kuckuck.

Matte Gedanken straft die Poesie mit schiefen Metaphern und hölzernen Neologismen. Jens Harzer, den wunderbaren denkenden Schauspieler, werfen sie in der letzten halben Stunde fast aus der Bahn. Mit diesem Autor haben viele einst lesen gelernt. Das macht die Gegenwart zum Trauerspiel.

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