„Das Hackbrett ist sehr wichtig“

Im Auftrag der „Sommerlichen Musiktage“ in Hitzacker, die am Sonnabend beginnen, hat der Schweizer Komponist Daniel Ott eine „Landschaftsmusik für Blasorchester, Spielmannszüge und Solisten“ zum Sonnenaufgang geschrieben. Die Natur imitieren will er aber nicht

DANIEL OTT, 46, Komponist, lehrt an der Berliner Universität der Künste experimentelle Musik und leitet das Festival „Neue Musik Rümlingen“.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Ott, Ihre zum Sonnenaufgang geplante Landschaftsmusik klingt nach einem sentimentalen Event. Oder nach einem sozialistischen Massen-Propagandastück. Welches von beiden ist Ihr Bezugspunkt?

Daniel Ott: Gar keins. Die Dinge liegen viel einfacher: Es gibt in Hitzacker eine sehr schöne Landschaft: die Elbhalbinsel und den Weinberg. Zu Beginn unserer Arbeit haben Regisseur Enrico Stolzenburg und ich uns also gefragt: Wie würde diese Landschaft klingen? Dafür sind wir frühmorgens mit Aufnahmegeräten dort hingegangen und haben gelauscht. Da war einerseits ein gewaltiges Vogelkonzert, außerdem Wind, Wellen und andere Tiere. Diese Erfahrung war für uns wichtig. Denn wir sind beide Stadtmenschen, und die ländliche Akustik ist uns fremd geworden. Der zweite Arbeitsschritt bestand in der Recherche dessen, was sich dort bereits ereignet hat. Da gibt es einmal die jüngsten Überschwemmungen. Während des Zweiten Weltkriegs war es ein umkämpfter Ort, im Dreißigjährigen Krieg ebenfalls. Diese Elbgrenze war immer auch Frontverlauf. Und 40 Jahre lang Grenze zur DDR. Das alles heißt aber nicht, dass meine Musik die Geschichte der Gegend illustriert. Trotzdem kann es Anspielungen auf die Musikkulturen dies- und jenseits der Elbe geben.

Auch auf die aktuelle Musik der Region?

Das haben wir im dritten Schritt ergründet: Welche Art von Musik machen die Menschen hier – und wie klingt die Landschaft, wenn die Menschen da sind. An der Elbe gibt es zum Beispiel gerade eine große Baustelle. Da wird ein Auffangbecken geschaffen, das vor der nächsten Flutkatastrophe schützen soll. Und was die vor Ort gespielte Musik betrifft: Da gibt es Spielmannszüge und Blaskapellen.

Wie binden Sie die ein?

Wir haben sie gewonnen mitzuwirken – um etwas zu tun, das sie normalerweise vielleicht nicht täten: zum Sonnenaufgang extrem leise Klänge zu spielen, die sich in die Natur einfügen, anstatt etwas obendrauf zu setzen. Sie sollen die Geräusche der Natur verstärken. Eine Posaune übersetzt zum Beispiel den Wind in ihr Instrument.

Das klingt aber sehr nach Illustration.

Das scheint nur so. Denn zwei Drittel sind Pausen. Die Musik ist immer eine Reaktion auf das, was man hört.

Die Musik als Echo der Landschaft?

Zum Beispiel. Aber es gibt – als Echo der dort ansässigen Musik – auch entsprechende Sequenzen der Blaskapellen. Die sind aber sehr kurz und dauern ungefähr zehn Sekunden. Es folgt eine Minute Stille, sodass sich im Kopf des Hörers Landschaft und Musik zusammensetzen können.

Wie viele Spielmannszüge nehmen teil?

Vier Gruppen à zehn bis 15 Spieler. Außerdem gibt es ein 20-köpfiges Blechblasorchester, das aus Studenten der Musikhochschulen Hamburg und Bremen besteht. Hinzu kommt ein Jazz-Trio aus Trompete, Saxophon und Schlagzeug.

Nehmen Sie die Spielmannszüge eigentlich ernst? Oder sind die ein ironisches Zitat?

Im Gegenteil: Ich finde das wunderbar, was die machen und ich habe ja auch keine Stücke geschrieben und dann Spielmannszüge dafür gesucht, sondern umgekehrt geschaut, was diese Musiker können und wie schräg es maximal sein darf.

Woran hört man denn, wie schräg es sein darf?

Man gibt ihnen Noten und schaut auf ihre Gesichter. Abgesehen davon schreibe ich nicht wirklich atonal – ich erschaffe nur neue Harmonien. Außerdem steht der Zuschauer nicht die ganze Zeit an der selben Stelle. Er muss also nicht ein bestimmtes Stück komplett und aus der Nähe hören. Musiker und Publikum bilden vielmehr einen Organismus, der sich durch die Landschaft bewegt.

Das heißt?

Die Klangaktion beginnt auf der Elbhalbinsel, wo einige Musiker stehen. Zwei weitere Kapellen stehen auf der andern Elbseite. Eine Gruppe wird auf dem Weinberg platziert. Sie setzen nacheinander ein, sodass der Zuhörer entscheiden kann, ob er verweilen oder weiterziehen möchte. Aber wir hoffen natürlich, dass die Besucher durch die Musik gelenkt werden und zum Sonnenaufgang auf den Weinberg kommen, wo dann alle zusammen spielen. Die ganze Zeit über gibt es aber Musik-Angebote aus verschiedenen Richtungen. Und da die Aktion 90 Minuten dauert, kann jeder verschiedene Standorte ausprobieren.

Und das Jazz-Trio spielt zur Spielmannsmusik, nun, Jazz?

Das kann passieren – wobei ich mich auf Gattungen nicht gern festlege. Denn was ich mache, nennt sich am ehesten „experimentelles Musiktheater“. Da sitze ich also sowieso zwischen allen Stühlen. Wobei ich das Stück für Hitzacker eher als Landschafts- oder Raummusik bezeichnen würde.

Die Sie ja öfter komponieren. Was interessiert Sie daran – die haben doch auch Stockhausen und Kagel schon praktiziert?

Ja, und die Doppelchörigkeit der Renaissance ist eigentlich auch Raummusik. Aber was mich reizt, ist die Tatsache, dass man nicht beispielsweise ein Streichquartett für einen geschlossenen Raum – Flaschenpostmusik – schreibt und wartet, bis sie jemand öffnet. Raummusik dagegen kann ich für bestimmte Leute und Orte schreiben. Ich kann konkreter sein. Außerdem bietet das Gelände bei Hitzacker phantastische akustische Möglichkeiten: Man kann hoch – auf dem Weinberg – und tief – in der Elbaue – stehen. Sehr fesselnd sind auch die Lichtwechsel. In der Dämmerung hört man viel intensiver. Deshalb beginnen wir auch so leise, weil wir das nicht zerstören wollen. Ist die Sonne aufgegangen, müssen wir gleich 50 Dezibel mehr geben, weil der Geräuschpegel der Landschaft steigt: Erste Autos fahren, die Landwirtschaft beginnt – die Summe der Geräusche erhöht sich schlagartig.

Ein Nachteil der Landschaftsmusik ist die Akustik: In der Ebene trägt der Klang nicht halb so weit wie im Raum.

Das hängt von der Instrumentenauswahl ab. Blechblasinstrumente tragen sehr weit. Allerdings ist im Freien die Richtung entscheidend. Während man im Innenraum aufgrund der Reflexion der Wände überall gut hört, nimmt man den Posaunisten draußen, sowie er sich vom Zuhörer abwendet, kaum noch wahr. Wenn eine Trompete andererseits einen Kilometer entfernt ist und genau in Richtung meines Ohrs spielt, höre ich sie sehr gut. Und das ist das Phantastische an Hitzacker: Wenn man am Fuße des Weinbergs oder auf der Elbhalbinsel steht, hört man die Musiker auf dem Weinberg so gut, als wäre man im selben Raum. Jedenfalls, wenn der Wind richtig steht.

Sie haben auch in andere Stücke volkstümliche Instrumente wie das Hackbrett integriert. Warum?

Das hat etwas mit der jeweiligen Landschaft zu tun. Mich interessiert immer die Musik der Gegend. Außerdem suche ich Alternativen zum akademischen Instrumenten- und Komponistenkanon. Und ich finde, dass Volksmusik mindestens so wichtig ist wie die Komponisten der Klassik. Volksmusik steht auch gesellschaftlich woanders: Sie wurde nicht für Herrschende und Könige komponiert, sondern ist eine musikalische Oral history.

Aber das Hackbrett ist schon recht altbacken.

Ich finde es gerade gut. Und mich reizt es, Stücke, die man auf der E-Gitarre spielen kann, auf das Hackbrett zu übertragen: Denn wenn man eine E-Gitarre sieht, und es klingt wie Jimi Hendrix: Wo ist die Herausforderung? Wenn aber ein Hackbrett Hendrix spielt … Kurz und gut: Ich habe Lust, solche Instrumente, die altbacken aussehen, quasi umzunutzen.

Stammen Sie eigentlich aus einer Gegend, in der Hackbrett gespielt wurde?

Ja. Ich komme aus Appenzell, wo das Hackbrett sehr verbreitet ist. Das ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin.

Spielen Sie es auch selbst?

Rudimentär. Meine Instrumente sind Klavier und Akkordeon. Letzteres habe ich auch deshalb gelernt, weil es ein weltumfassendes Volksmusik-Instrument ist. Und weil es – wie Hackbrett oder Castagnetten, für die ich auch komponiert habe – keineswegs auf volksmusikalische Kontexte reduziert bleiben muss. Genauso wenig wie die Wendländischen Spielmannszüge.

Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker eröffnen am 28. 7., das Konzert von Daniel Ott beginnt am So, 29.7. um 4.30 Uhr am Schiffsanleger Elbe-Star auf der Altstadtinsel Hitzacker. Das ganze Programm: www.musiktage-hitzacker.de