Weder Panik noch Entwarnung

Nachdem in Dänemark die Seehundstaupe wieder aufgetreten ist, wird auch an den deutschen Küsten nach Anzeichen für die mysteriöse Seuche gesucht. Konkreten Anlass zur Besorgnis sehen die Experten derzeit aber nicht

Bei der Seehundstaupe verendeten 1988 und 2002 teils mehr als die Hälfte der Bestände: 1988 starben in Nord- und Ostsee rund 18.000, 2002 etwa 21.700 Tiere. Die Krankheit wird durch Tröpfcheninfektion verbreitet, infizierte Tiere verenden qualvoll, das Immunsystem wird rasch geschwächt. Das Virus ist für Menschen ungefährlich. Tiere, die eine Epidemie überleben, sind bei einem neuen Ausbruch des selben Virus immun.  DPA

Auf Strümpfen und mit gesenktem Kopf schleicht Michael Stede am östlichen Ende der Nordseeinsel Norderney über den Strand. Mit einem kleinen Spachtel schaufelt er seine Funde in Plastikröhrchen. Nachdem in Dänemark die Seehundstaupe ausgebrochen ist, sucht der Veterinärdirektor des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves) nach Hinweisen auf die todbringende Seuche auch an der deutschen Küste: nach Seehundekot, Blutspuren und Sekreten.

Husten, blutiger Schleim und entzündete Lungen – beim Ausbruch der Krankheit 1988 und 2002 verendeten tausende Tiere in Nord- und Ostsee qualvoll. „Sie haben dann blutigen Schaum vor dem Mund und zucken wie bei epileptischen Anfällen. Das war schrecklich, wir haben ja tagelang nur tote Seehunde geschleppt“, erinnert sich Fritz Rabenstein. Seit 20 Jahren arbeitet der Seehundpfleger, ein gelernter Konditormeister und Zahntechniker, mit den Tieren. Längst haben sich die Bestände wieder erholt. Alleine im Bereich des Wattenmeeres in den Niederlanden, in Deutschland und Dänemark leben heute rund 15.000 Tiere. „Wir glauben eigentlich, dass es nicht so schlimm kommen wird wie die beiden letzten Male“, waren sich dänische Experten sicher, nachdem sie das Virus im Juni festgestellt hatten. Rund 100 Tiere sind bislang verendet. Auch die deutschen Kollegen sehen derzeit keinen Grund, Alarm zu schlagen. „Wir hoffen, dass wir in diesem Jahr verschont bleiben“, sagt Stede. Am Strand von Norderney konnte der Veterinär keine auffälligen Spuren entdecken. Die Tiere sähen „alle ganz gut aus. Es gab keine Auffälligkeiten“, sagt er nach seinem Rundgang im Naturschutzgebiet.

Wie in Niedersachsen wurden auch in Schleswig-Holstein bislang keine toten Tiere entdeckt. „Wir sind jedoch nach wie vor nicht in Sicherheit“, erklärt ein Sprecher des Umweltministeriums. Noch immer wissen die Experten nicht genau, was der Auslöser für das Virus ist und woher es kommt.

An den deutschen Küsten sieht man deshalb keinen Grund für Entwarnung. „Mit dem beginnenden Haarwechsel und der Paarungszeit ist es natürlich eine sehr anstrengende Zeit für die Tiere, da könnte sich ein Virus sehr schnell ausbreiten“, sagt Stede. Und ist die Seuche erst ausgebrochen, gibt es keine Chance, sie aufzuhalten. „Man kann dann gar nichts mehr machen“, sagt Stede. „Es gibt nach meiner Kenntnis keinen zugelassenen Impfstoff.“ Man wisse zu wenig über die Krankheit und könne gar nicht abschätzen, was der Impfstoff mit dem Tier mache.

Für eine bessere Analyse hätte Stede gerne Blutproben der Tiere genommen. Doch die wachsamen Seehunde beobachten jede Bewegung. Keines der Tiere ist zu verschlafen, um die Flucht ins Wasser zu verpassen. „Es ist Vorsicht geboten, es sind ja keine Kuscheltiere, sondern wilde Raubtiere“, sagt Stede. Tierpfleger Rabenstein kann das nur bestätigen. Mit dick verpflasterten Finger zeigt er seine Narben an Armen und Fingern. „Ich habe schon über 1.000 Seehunde aufgezogen, bin schon in jeden Finger und in den Unterarm gebissen worden“, sagt er. „Die Tiere können nichts dafür, das war meine eigene Unachtsamkeit.“

Mit der Blutprobe wird es bei Stedes Spurensuche auf Norderney nichts. Die Tiere sind zu wachsam und fliehen zu Dutzenden ins Meer. Vom Wasser aus betrachten sie die Arbeit des Wissenschaftlers – aus sicherer Entfernung. OLIVER PIETSCHMANN, dpa