JÖRN KABISCH über DAS GERICHT
: Wie ich ein Kilo Roquefort auf einmal aß

Ob Malzessig, Cidre oder Feigenessig – wie Karl Valentin schon wusste: Fremdes Essen schmeckt in der Fremde fremd

Auf der verzweifelten Suche nach etwas Trinkbarem haben mich neulich im Keller zwei Flaschen Cidre angebettelt. Glas und Etiketten waren schon ziemlich verstaubt. Ich dachte nach, wie lang die schon da unten liegen. Sicher mehrere Jahre. Ich weiß noch: Ein Bekannter hat die Flaschen direkt aus Frankreich mitgebracht. Er schwärmte auch überschwänglich. Aber an dem Abend muss es Rinderbraten oder so etwas gegeben haben, deshalb blieben sie zu. Ich weiß auch noch: Ich war darüber nicht unglücklich. Bis heute. Tut mir leid, Cidre-Flaschen, aber euch kann man einfach nur in der Normandie köpfen. Nirgendwo sonst. Ich habe es immer wieder probiert, aber ob in Berlin, New York oder sonst wo – das Zeug trinkt sich einfach nicht richtig.

Womit wir beim Thema sind. Manch fremdes Essen schmeckt in der Fremde fremd, um mit Karl Valentin zu sprechen. Cidre schmeckt natürlich unübertroffen, wenn der Abendwind spätsommerlich warm vom Atlantik über die Tische vor einer Crêperie in Bayeux säuselt, es aus allen Gläsern golden leuchtet und der Cidre so frisch schmeckt wie ein knackiger Apfel. Aber wie wurmstichig kommt einem die gleiche Flasche vor, wenn man sie ein paar hundert Kilometer weiter entkorkt und sie nur noch öde perlt. Es ist mir ein Rätsel: Nicht mal, wenn ich Serge Gainsbourg auflege, schmeckt der Cidre einen Hauch besser. Also bleiben die Flaschen im Regal.

Nach jedem Urlaub ist es wieder aufregend, die Flaschen und Kartons voller Lebensmittel aufzumachen, die ich auf Reisen sammle wie andere Leute Kofferaufkleber oder Schneekugeln. Meist wandern die aber zu den Cidre-Flaschen in den Keller. Und damit in die Vergessenheit. Weil sie ihrer normalen Umgebung entrissen worden sind und oft seltsam schüchtern werden – oder manchmal das genaue Gegenteil davon. Wie diese Pulle Sliwowitz vom Straßenrand irgendwo auf dem Balkan, die dort großartig schmeckte. Hier in Deutschland jedoch führen schon zwei Gläser davon bei mir zu Sehstörungen.

Malzessig habe ich auch noch – extra für Fish & Chips aus England mitgebracht. Aber das ist auch so ein Gericht, das, der eigenen Heimat entrissen, mir mehr als fremd ist – vor allem mit Malzessig. Vielleicht schmeckt der nur, wenn er mit der Druckerschwärze einer selbst zusammengedrehten Pommestüte in Berührung kommt. Mein Bestand an Feigensenf ist übrigens auch für Jahrzehnte gedeckt. Gleich drei Gläser habe ich gefunden. Einmal aufgeschraubt, gekostet, gleich wieder zugedreht. Komisch: In der Schweiz war das Zeug gar nicht übel.

Eines aber habe ich dieses Jahr in Frankreich gelassen. Da wusste ich gleich: Das bleibt mir nur nicht fremd, wenn es in der Fremde bleibt. Also in den französischen Seealpen, auf fast 2.000 Meter Höhe nördlich von Nizza, im Mercantour, an der Grenze zu Italien. „C’est explosée“, sagte Patrick, als er den Deckel von dem Steinguttopf hob. Wir waren beim Käse angelangt, und der Wirt löffelte nur ein ganz bisschen von dem gräulichen Sprengstoffbrei auf den Teller. „Pass besonders auf, wenn du dir nachher die Zigarette anzündest.“

Das sei „le brush“, sagte er noch – als ob das jeder kennt. Und beobachtete dann lächelnd, wie ich das Zeug aufs Baguette schmierte und hineinbiss. Tatsächlich: eine Geschmacksexplosion. Überwältigend. Der Atem stockt kurzzeitig. Und dann hat man auf einmal das Gefühl, besser hören, sehen, riechen zu können. Als ob der Körper sekundenschnell alle Adrenalinvorräte ausgeschüttet hätte.

Was „le brush“ ist? Oder bruss oder bross oder bruzzu, wie sie ein paar Kilometer weiter im Piemont sagen? Bei Patrick besteht er aus Käseresten, die mit Brot, Milch und Eau de Vie, also Grappa, eingeweicht werden und dann ein ganzes Jahr im Keller stehen. Und fermentieren und fermentieren und fermentieren. Der anschließende Geruch, das ist die reine Wahrheit, muss jeden Korsen neidisch machen. Wenigstens wenn die Legende stimmt, die Goscinny und Uderzo in einem Asterix-Band erzählen, und die Korsen auf nichts stolzer sind als auf ihre umwerfend riechenden, sogar Piraten in die Flucht schlagenden Käse. „Le brush“ schmeckt wie ein Kilo Roquefort, nur auf ein paar Gramm konzentriert, und der Schnaps mildert dabei die Spitzen. Mehr kann ich nach dem einen Bissen noch nicht sagen. Für den nächsten lasse ich mir erst mal Zeit. In der dünnen Luft von 2.000 Metern, nur da wird es ein nächstes Mal geben. In Berlin fürchte ich Sehstörungen. Also: à bientôt, Patrick, in deiner kleinen Herberge in Chateuneuf d’Entraunes.

JÖRN KABISCH

DAS GERICHTFragen zum Geruch kolumne@taz.de Morgen: Martin Reichert über LANDMÄNNER