Camouflage

Vor dem Kampfsport

Wir hocken auf den Betonstufen des tristen Treppenhauses und warten auf den Beginn unserer Stunde. Nahöstliche Glaubens- und fernöstliche Kampfsportgemeinschaften praktizieren hier Tür an Tür. Unsere Sporttaschen sind ein gutes Sitzpolster. Der Junge im grundschulpflichtigen Alter linst am Schirm seines Camouflage-Caps vorbei und mustert mich. Wir betrachten die Graffiti, Imperialisten stoppen, Kapitalisten vertreiben, Banden bilden.

Der Knirps scheint zu überlegen, wie er mich beeindrucken könnte, und eröffnet schließlich das Gespräch: „Ich freu mich schon auf übermorgen!“ Ich frage nach, und er erklärt, dass er am Wochenende gemeinsam mit Papa an einem Modellflugzeug weiterbauen werde. Was denn für eins, frage ich ihn – und frage mich, was an meinem Äußeren darauf schließen lassen könnte, dass ich mich für Modellflugzeuge interessiere. Sehe ich aus wie ein großer Junge? „Wir bauen an einer B-29“, erklärt der kleine Junge. Ob ich wisse, was das für eine Maschine sei. Ich muss passen, tue aber interessiert und verleugne meine Kriegsdienstverweigerungsvergangenheit. Ich erfahre dann ziemlich viel über dieses militärtechnische Wunderwerk, einen Bomber aus der Spätphase des Zweiten Weltkrieges, auch Superfortress genannt. Der Kleine referiert Reichweite, Bewaffnung, maximale Bombenlast und versucht mich zu überzeugen, dass die Superfortress der coolste Flieger der Welt sei. Sonderlich beeindruckt sehe ich offenbar nicht aus, aber der Knirps ist siegesgewiss. Ein prüfender Blick, eine kurze, geschickt gesetzte dramatische Pause, dann spielt er seinen Trumpf aus und erklärt voller Stolz: „Der hat die Atombombe über Hiroshima abgeworfen!“

STEFAN NICKELS