Groß Familie

„Der Bastard von Istanbul“ – Elif Shafak nimmt temporeich alles aufs Korn, was in der Türkei gesellschaftlich brisant ist

Tante Feride färbt sich die Haare und klappert das gesamte Spektrum psychischer Störungen ab, Tante Zeliha trägt Miniröcke, einen Nasenring und ist Inhaberin eines Tattooshops, Tante Cevriye arbeitet als Geschichtslehrerin, während Tante Banu ihr Leben mit Kaffeesatzlektüre und Hellseherei ausfüllt. Das Umfeld, in dem die junge Istanbulerin Asya aufwächst, ist alles andere als das einer türkischen Durchschnittsfamilie. Entsprechend hat sich die 19-Jährige ihre eigene Mischung aus Johnny Cash, schlechter Laune, Haschisch und Nihilismus zusammengebraut, um dem Alltag zu trotzen und mit der Tatsache zurande zu kommen, dass sie ein „Bastard“ ist. Denn ihre Mutter alias Tante Zeliha verschweigt beharrlich, wer Asyas Vater ist.

Als sich Besuch aus Amerika ankündigt, wird die Lage noch komplizierter: Armanoush, die Stieftochter des in die USA emigrierten Onkels, besucht die Familie Kazanci, um mehr über ihre aus Istanbul stammende armenische Großmutter zu erfahren. Was folgt, ist der Beginn einer Freundschaft, die gemeinsame Erkundung der Vergangenheit sowie ein Tod in Amerika, der auf verschlungene Weise zu einem weiteren Tod in der Stadt am Bosporus führt. Schuld wird gesühnt, und Asya erfährt am Ende den Namen ihres Vaters.

Elif Shafak hat einen temporeichen Roman geschrieben, der vom Patriarchismus und Sexismus bis hin zur Geschichtsvergessenheit so ziemlich alles aufs Korn nimmt, was in der Türkei gesellschaftlich brisant ist und wofür sie im vergangenen Herbst wegen Herabsetzung des Türkentums angeklagt wurde. Herausgekommen ist eine zum Teil unterhaltsame Lektüre, denn Shafak hat die Form der Screwballkomödie gewählt: exzentrische Charaktere in urbanem Setting; Skurrilität und Übertreibung als Basis eines Humors, der Ernstes stets in heiterem Tonfall präsentiert. Stilmerkmale, die zugleich die oberflächliche Psychologie der Figuren bedingen: Die Männer sind entweder abwesend, herrschsüchtig oder auf altväterliche Art gütig; und die stark dominierenden Frauengestalten zeichnen sich durch Unangepasstheit aus.

Angesichts dieser konstruierten Leichtigkeit des Personals fällt umso mehr auf, wie gewissenhaft und auch schwerfällig Shafak ihre Themen durcharbeitet. Schön sind Szenen wie die, in der Armanoush ihrer Gastfamilie von der grausamen Verfolgung ihrer armenischen Vorfahren erzählt und dafür Erstaunen und persönliches Mitgefühl erntet, aber erkennen muss, dass die Zuhörer keinerlei Verbindung zwischen sich und ihren osmanischen Vorfahren sehen. Doch leider finden sich immer wieder steife, halb analysierende Sätze: „Aufgrund ihrer zerrissenen Kindheit war sie bisher nicht in der Lage gewesen, ein Gefühl von Kontinuität und Identität aufzubauen.“

Dass die Ausbildung eines stimmigen Selbstbildes nur möglich ist, wenn man seine Vergangenheit kennt und bereit ist, für sie Verantwortung zu übernehmen, ist das zentrale Motiv dieses Romans. Alle Charaktere laborieren an der Vergangenheit, sei es der persönlichen oder politischen, der türkischen oder armenischen, als Täter oder als Opfer, in gesellschaftlicher oder sexueller Hinsicht. Und so wird die Großfamilie, deren chaotisches Miteinander zu Beginn den Einzelnen vor allem einzuschränken schien, immer mehr zu einem Vehikel der Orientierung. Gegen Ende heißt es leicht sentenzenhaft: „Familiengeschichten vermischen sich miteinander in einer Weise, dass etwas, was Generationen zuvor passiert ist, in scheinbar belanglosen Entwicklungen der Gegenwart wieder auftaucht. Die Vergangenheit ist alles andere als vergangen.“ ANTJE KORSMEIER

Elif Shafak: „Der Bastard von Istanbul“. Aus dem Türkischen von Juliane Gräbener-Müller. Eichborn, Frankfurt a. M. 2007, 464 Seiten, 22,90 Euro